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Ein Ministerpräsident im Wahlkampf

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Von: Hanning Voigts

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Mit dem designierten neuen Ministerpräsidenten Boris Rhein geht das Land Hessen politisch bewegten Monaten entgegen.
Mit dem designierten neuen Ministerpräsidenten Boris Rhein geht das Land Hessen politisch bewegten Monaten entgegen. © Arne Dedert/dpa

Mit Boris Rhein als Ministerpräsident könnte die Politik im Land wieder spannender werden. Der Leitartikel.

Der Ausdruck ist überstrapaziert, aber in diesem Fall passt er tatsächlich. Mit dem Rücktritt von Volker Bouffier vom Amt des Ministerpräsidenten endet am Dienstag in Hessen eine politische Ära, sogar im doppelten Sinn. Fast zwölf Jahre lang saß der Jurist und langjährige Innenminister aus Gießen in der Wiesbadener Staatskanzlei, seit August 2010 bestimmte er die Geschicke des Landes, zuletzt als dienstältester Ministerpräsident der Republik. Nun endet nicht nur die Ära Bouffier, sondern in gewissem Sinn auch mit viel Verspätung die Zeit seines Freundes und Amtsvorgängers, des rechten Hardliners Roland Koch – zwölf Jahre nach dessen Rücktritt.

Denn angesichts des ausgleichenden, landesväterlichen Images, das Bouffier in den vergangenen Jahren gepflegt hat, könnte fast in Vergessenheit geraten, wofür der 70-Jährige so wie Roland Koch eben auch steht: Für den beinharten Konservatismus der hessischen CDU, für rassistisch gefärbte Wahlkampagnen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, für die Nichtaufklärung im NSU-Komplex, für verschworene Männerbünde wie die „Tankstellen-Connection“ und den „Andenpakt“, für Befehl und Kadergehorsam, kurz: für einen Politikstil, der heute reichlich aus der Zeit gefallen wirkt. Auch wenn Bouffier ihn in seiner Regierungszeit mit den Grünen zum Teil abgelegt und sich auch inhaltlich breiter aufstellt hat, ist es gut, dass dieser Stil nun nicht mehr beherrschend sein wird in der hessischen Politik. Es ist wirklich an der Zeit.

Mit dem designierten neuen Ministerpräsidenten Boris Rhein geht das Land politisch bewegten Monaten entgegen. Rhein, der ähnlich jovial auftritt wie Bouffier, sich zuletzt aber betont liberal und lernfähig gegeben hat, wird von Beginn seiner Amtszeit an ein Ministerpräsident im Wahlkampf sein. In nicht einmal eineinhalb Jahren wird gewählt in Hessen, die Zeiten sind krisenhaft, die Wahlergebnisse volatil.

Rhein wird den Spagat hinbekommen müssen, mit den Grünen weiter verlässlich zu regieren, sich positiv von seinem Vorgänger abzuheben und zugleich politische Signale an die eigene Parteibasis und die eigene Wählerschaft zu senden. Ein Drahtseilakt, zumal Rhein bis heute an seiner größten politischen Niederlage zu knabbern hat, der Wahlschlappe gegen den Sozialdemokraten Peter Feldmann bei der Oberbürgermeisterwahl 2012 in Frankfurt. Wenn er die Landtagswahl verliert, dürfte Rheins politische Karriere den nächsten tiefen Knick bekommen.

Aber auch die Grünen werden schon kurz nach der Wahl von Boris Rhein in sein neues Amt damit beginnen müssen, sich von der CDU abzusetzen. Im Bündnis mit den Christdemokrat:innen hat die Partei zuletzt brav und staatstragend gewirkt, ureigene Projekte wie das kommunale Wahlrecht ab 16 zur Wahrung des Koalitionsfriedens mit der CDU im Landtag abgelehnt. Wenn sie sich weiter als eigenständige, progressiv-bürgerliche Kraft positionieren wollen, werden die Grünen also den eigenen Politikkern wieder stärker herausstreichen müssen. Das gilt umso mehr, als die Partei selbstbewusst betont, mit ihrem mutmaßlichen Spitzenkandidaten Tarek Al-Wazir könnte auch ein Grüner Regierungschef in Hessen werden.

Wie das Rennen um die Staatskanzlei im Herbst 2023 ausgehen wird, hängt nicht zuletzt von der SPD ab. Noch ist nicht klar, ob Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die gerade mit breiter Mehrheit zur hessischen Landesvorsitzenden gewählt worden ist, als Spitzenkandidatin in Hessen antritt. Faeser hält sich betont alle Optionen offen. Aber eines darf als sicher gelten: Es gibt derzeit niemanden in der hessischen SPD, der oder die ähnlich gute Chancen bei der Landtagswahl hätte wie die 51-jährige Juristin aus Schwalbach. Nach dann fast 25 Jahren CDU-geführter Regierungen könnte Faeser die Notwendigkeit eines echten Wechsels betonen, und sie verfügt über genug Standing und Redekunst, um CDU und Grüne im Wahlkampf in Bedrängnis zu bringen. Als Bundesinnenministerin ist sie mittlerweile zudem ein bekanntes Gesicht und hat etwa beim Kampf gegen Rechtsextremismus ein klares politisches Profil. Es ist schwer vorstellbar, dass die SPD diese Chance ungenutzt lässt.

Man kann also sagen, dass die Politik in Hessen nach dem Abgang von Volker Bouffier wieder interessanter wird. Und das ist in Zeiten, in denen innen- wie außenpolitisch alte Gewissheiten zu Staub zerfallen und mit Krieg, Pandemie und Klimakrise riesige Probleme zu bewältigen sind, mit Sicherheit ein Gewinn. Politik in Demokratien lebt von Alternativen, sie lebt vom Wandel. Und das gilt irgendwann sogar in Hessen.

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