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Istanbul-Konvention: Frauen gemeinsam schützen

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Von: Bascha Mika

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Gewalt gegen Frauen muss enden.
Gewalt gegen Frauen muss enden. © Bernd Günther/Imago

Der Widerstand gegen die Istanbul-Konvention ist falsch. Sie muss vielmehr umgesetzt werden. Der Leitartikel.

Es gibt Momente der Menschheitsgeschichte, in denen der Barbarei entschieden entgegengetreten wird. 2011 gab es einen solchen Moment. Damals legte der Europarat in der Türkei ein Abkommen zur „Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“ vor. Die Istanbul-Konvention war geboren. Ein Vertrag mit visionärem Charakter, der von Frauenrechtsaktivistinnen als „Goldstandard“ gelobt wird.

Doch gibt es auch andere Stimmen. Die Konvention ist eine Frechheit, dreist, unverschämt, eine Zumutung. So sehen es Dominanzhengste, Frauenverächter, Paschas und Patriarchen. So sehen es alle, die an ein biologisch oder göttlich vorgegebenes Männerregime glauben.

Das Abkommen stellt die klassischen Geschlechterrollen nicht nur infrage, sondern macht die herrschenden Machtverhältnisse explizit für geschlechtsspezifische Gewalt verantwortlich. Und fordert „die Verwirklichung der rechtlichen und der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern als wesentliches Element der Verhütung von Gewalt gegen Frauen“.

Somit rüttelt der Vertrag an allen traditionellen Strukturen, die dazu dienen, Geschlechterhierarchien aufrechtzuerhalten. Im Politischen, Gesellschaftlichen und Privaten. Und genau hier liegt die Krux. Hier liegt die Ursache für alle Abwehr und Anfeindungen, denen die Istanbul-Konvention von verschiedenster Seite ausgesetzt ist.

Sie verknüpft die Gewaltfrage mit dem herrschenden Bewusstsein in patriarchal geprägten oder männerdominierten Gesellschaften. Und erwartet, dass sich die Haltungen und Verhältnisse umfassend ändern, damit Frauen nicht länger Opfer des männlichen Dominanzstrebens werden. Das ist die Zumutung.

Denn keinem der europäischen Staaten, die dem Vertrag nicht beitreten, ihn nicht umsetzen oder ihn verlassen wollen, geht es im Kern um die Gewaltfrage. Die meisten dieser Länder behaupten ja von sich, dass sie Brutalität gegen Mädchen und Frauen grundsätzlich ablehnen und strafrechtlich sanktionieren.

Doch entgegen der Istanbul-Konvention soll das Gewaltproblem gefälligst isoliert und nicht gesamtgesellschaftlich betrachtet und angegangen werden. Gibt es nicht überall einzelne, durchgeknallte Männer, die mal ausrasten und dann zuschlagen? Was daran soll ein strukturelles Problem, gar eine Menschenrechtsverletzung sein? Offene Gewalt gegen Frauen – nein, Danke. Weibliche Unterordnung samt konservativer Männlichkeitsbilder – ja, bitte!

So ist es schon erstaunlich und erschreckend, was sich Politiker und andere Interessierte einfallen lassen, um übelst gegen die Istanbul-Konvention zu polemisieren und gleichzeitig die treibende Ideologie hinter ihren Angriffen zu kaschieren. Ein Lieblingsargument, benutzt vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bis hin zu den einschlägig bekannten osteuropäischen Staaten: Die Konvention zerstöre die Familie, propagiere die sozial-kulturelle Konstruktion von Geschlecht und leugne damit biologische Tatsachen. Wer Geschlechterstereotypen benenne, mache den ersten Schritt hin zu diversen Geschlechteridentitäten.

Mithin sei die Istanbul-Konvention ein trojanisches Pferd, das den Beitrittsländern die „Ehe für alle“ und das „Dritte Geschlecht“ unterjubeln wolle. In den Worten des polnischen Justizministers: Das Abkommen sei „eine feministische Erfindung, die eine Schwulen-Ideologie begründen soll“. Die Konvention sei verzichtbar, denn „dass man Frauen nicht schlagen darf, kann man im Evangelium nachlesen“. Problem nur, dass selbst im religiös geprägten Polen viele Männer einen Dreck auf dieses Evangelium geben.

Es ist eine homophobe und misogyne Kampagne, die da geführt wird. Der Kampf gegen ungleiche Machtstrukturen und Missachtung von Menschenrechten wird zum Kampf um kulturelle Identitäten umgeschrieben. Dabei ist der bittere Witz: Zu den wenigen Mängeln der Istanbul-Konvention gehört, dass sie noch von einem binären Geschlechterbild, von Frauen und Männern ausgeht. Ein volatiles Geschlecht kommt nicht vor.

So gilt die Konvention nicht per se für LGBTQIA+ Menschen, schützt zwar Transfrauen, aber Transmänner schon nicht mehr. Allerdings bietet das Abkommen eine gute Basis, um grundsätzlich für sexuelle Minderheiten und marginalisierte Gruppen zu streiten.

Das Feindbild Istanbul-Konvention ist Teil eines internationalen Feldzugs gegen Frauenrechte, sexuelle Freiheit und geschlechtliche Vielfalt. Der wird seit Jahren geführt, nicht nur in Europa. Auch auf UN-Ebene wird gehetzt, maßgeblich von konservativer und religiöser Seite. Und gerne im Namen der Tradition.

Wie sagte es Karl Marx: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ Das ist wohl wahr, bedeutet aber noch lange nicht, dass es keine Befreiung von diesem Alp geben kann – zumal, wenn sich die Tradition als menschenfeindlich herausstellt. Wie sonst gäbe es die Ächtung von Gewalt und damit zivilisatorischen Fortschritt?

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