Deutschland hat eine neue Regierung - aber der Fortschritt hält sich in Grenzen

Die neue Regierung steht. Aber mit dem Aufbruch, den Olaf Scholz verkündet, ist es so weit nun auch wieder nicht her. Der Leitartikel.
Es ist vollbracht, die Ära Merkel hat ein Ende gefunden, und Olaf Scholz ist Bundeskanzler – der erste Sozialdemokrat in diesem Amt seit 16 Jahren. Das klingt schon fast nach Epochenwechsel und politischer Wende, und tatsächlich könnte Deutschland so etwas gut gebrauchen in Zeiten von Klimawandel, internationalen Krisen, sozialen Brüchen und Corona-Pandemie.
Tatsächlich hört sich der Diskurs von Scholz und seinen neuen Freunden (es sind tatsächlich vor allem Männer, die ihn intonieren) nach Erneuerung an: Es wimmelt von „Fortschritt“ und „Aufbruch“, und die „ökologisch-soziale Marktwirtschaft“, verbunden mit dem Bekenntnis zu einer aktiven, diversen und freiheitlichen Gesellschaft sowie deren Verteidigung nach innen und außen, dürfte den politischen Idealen des Neukanzlers schon ziemlich nahe kommen. Allerdings ist es auch kein Zufall, dass es mehr nach verwalten als nach gestalten klingt, wenn Scholz verkündet, er werde „Fortschritt organisieren“.
Reformen ertragen, wenn es beim „weiter so“ bleibt
Solche trockenen Aussagen, mit denen jeder fortschrittliche Akt sich umgehend in eine Akte zu verwandeln scheint, werden oft als Ausdruck persönlicher Eigenschaften des Olaf Scholz gedeutet. Er sei nun mal mehr für das „Handeln“, „Machen“, „Anpacken“ gemacht als für große Visionen, lautet die gängige Version, und der Erfolg der SPD im Wahlkampf hat sicher einiges damit zu tun, dass der Kandidat genau dieses Image systematisch pflegte.
Offenbar ist es wirklich so, dass sich ein beachtlicher Teil der deutschen Gesellschaft im Bild des anständigen Schaffers wiederfindet. Es könnte sogar sein, dass es vielen leichter fällt, Veränderungen und Reformen zu „ertragen“, wenn sie im Gestus eines prinzipiellen „Weiter so“ vorgetragen werden. „Marktwirtschaft“ und „Industrieland“ lauten die Stichworte im Koalitionsvertrag, die offensichtlich Kontinuität für das Wohlstandsmodell Deutschland suggerieren sollen.
Man sollte sich nicht allzu viel erwarten
Wer glaubt, dass der real existierende Kapitalismus die Probleme unserer Zeit bewältigen kann, wenn wir ihn nur sozusagen an eine neue Stromquelle anschließen, wird das Fortschrittsversprechen der Ampelkoalition freudig und zuversichtlich zur Kenntnis nehmen. Wer aber mit guten Gründen der Ansicht ist, dass auch das System selbst einer tiefgreifenden Transformation bedarf, um den Namen „ökologisch-sozial“ zu verdienen, sollte sich von dieser Regierung nicht allzu viel erwarten.
Aus dieser Perspektive verbirgt sich hinter den Fortschrittsparolen der Ampelmänner ein Bündnis aus neoliberalem Marktglauben, grün-gelben Ansprüchen an die Liberalisierung der Gesellschaft und rot-grünen Ideen für die Linderung der gravierendsten sozialen Folgeschäden des Kapitalismus. Und genau so sehen die konkreten Projekte der Ampel auch aus. Es wird sich wohl einiges bessern im Bereich „öko-sozial“ (und liberal), immerhin. Aber das Hauptwort bleibt, grammatikalisch wie inhaltlich, die „Marktwirtschaft“.
Der Fortschritt und die Grenzen, an denen er endet: Das prägt schon den Start des Ampel-Bündnisses, und falls zumindest die rot-grünen Partei- und Fraktionsführungen ihre Fähigkeit zur Regierungskritik bewahren, wird es auch künftige Debatten prägen.
Die FDP bestimmt die Richtlinien der Politik
Beispiel Pandemiebekämpfung: Schon in dieser akuten Frage wurde deutlich, wie die Anti-Staat-Partei FDP die Richtlinien der Politik bestimmt. Nicht dass sie die Einschränkung von Freiheitsrechten zunächst immer mit Skepsis betrachtet, war das Problem. Sondern dass sie, beispielhaft für ihre ganze Politik, dabei den Aspekt der Solidarität sträflich unterbelichtete. Nur so konnte es passieren, dass die Ampel-Parteien so spät zu einigermaßen transparenten und angemessenen Eingriffen und Verfahren fanden.
Beispiel Klimaschutz: Dass sich ehrgeizige Ziele hier mit weniger ehrgeizigen Regulierungen verbinden, ist schon häufiger angemerkt worden. Um nur einen Punkt zu nennen: Dass die einzelnen Sektoren (zum Beispiel Gebäude und Verkehr) die Einhaltung ihrer Zielvorgaben nicht mehr jährlich und jeder für sich nachweisen sollen, öffnet Verschiebereien, die das Klimaschutzgesetz erst kürzlich unterbunden hat, wieder Tür und Tor. Die FDP und ihre Klientel in den Unternehmen wird es freuen.
Beispiel Verkehr: Dass Deutschland schärfere Vorgaben etwa beim Abgasausstoß hintertreibt, kommt wohl (hoffentlich) nicht mehr vor. Und die Gewichte beim Investieren werden sich erfreulicherweise von der Straße zur Bahn verschieben. Aber wer den Koalitionsvertrag liest, findet keinen Hinweis darauf, dass es künftig auch nur ein Auto weniger geben soll. Nur elektrisch sollen sie fahren. Aber dass etwa auch Akkus ohne Rohstoffausbeutung im globalen Süden nicht zu haben sind, darüber redet so gut wie niemand.
Der Fortschritt, heißt es, sei eine Schnecke. Das Dumme ist, dass das Kriechen nicht die Gangart darstellt, mit der die notwendigen Veränderungen zu erreichen sind. (Stephan Hebel)