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Falsche Corona-Debatten: Strukturelle Probleme verstärken sich mit jeder Krise

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Von: Thomas Kaspar

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Ein obdachloser Mann schiebt einen Einkaufswagen durch die Stadt. (Archivbild)
Ein obdachloser Mann schiebt einen Einkaufswagen durch die Stadt. (Archivbild) © Philipp Schulze/dpa

Zwei Jahre mit der Corona-Pandemie offenbaren schonungslos die Ungleichheit im Sozialsystem. Der Leitartikel.

Niemand kann von sich behaupten, schon jetzt zu wissen, wie die Welt nach Corona aussehen wird. Aber wie jede Krise, so hat auch diese nicht nur die Kraft zur Zerstörung. In den Trümmern mancher Gewissheit lassen sich womöglich Hinweise darauf finden, an welchen Stellen die Statik gewohnter Gedankengebäude oder gar der ganzen Gesellschaft so stabil nicht war, wie wir meinten. Nur wenn wir diese Hinweise frühzeitig erkennen, wird ein Wiederaufbau zu bewerkstelligen sein, der alte Fehler vermeidet.“ Diesen Gedanken veröffentlichten wir zum Auftakt der Serie „Die Welt nach Corona“, die kurz nach Ausbruch der Pandemie erschien.

Im Verlauf der Reihe, die inzwischen unter dem Titel „Heile Welt“ gebündelt vorliegt, haben unzählige Fachleute klar aufgeblättert, welche Versäumnisse das deutsche Gemeinwesen im Gesundheitssektor, in der Bildung, in der Einbindung sozial benachteiligter Gruppen, in der Digitalisierung und vielen anderen Bereichen aufweist.

Corona-Pandemie macht Versäumnisse deutlich – zu wenig wurde angepackt

Fast zwei Jahre danach kann man nur schreiend die Haare raufen, angesichts dessen, was hiervon angepackt wurde. Zu sagen, es sei „wenig passiert“, wäre untertrieben. Die Probleme wurden heruntergespielt, ignoriert – und in manchen Bereichen wie in der Pflege verschlechterte sich die Situation sogar dramatisch.

Warum ist das so? Die politisch Verantwortlichen haben nicht das Richtige getan, sondern die Energie des Wandels in falschen Themen und in Scheindebatten gebunden.

Früh war klar, dass die Pandemie sozial benachteiligte Milieus härter trifft. Wo das Vertrauen in die Entscheidungen von Eliten schwächer ausgeprägt ist, ist auch der Boden für irrationale Ängste und Offenheit für Desinformation mehr verbreitet.

Corona in Deutschland: Impfverweigerung hat komplexe Ursachen

Die Debatte ist derzeit oft gebunden durch jene Unbelehrbaren, die nicht erreicht werden können. Aber eine hohe Impfquote verhindern nicht nur jene, die gerade mit Rechten spazieren gehen. Es gibt immer noch eine beträchtliche Zahl, für die die Hürde zum Impfen psychologisch, finanziell oder strukturell zu hoch ist. 2021 bezogen 3.813.992 Personen in Deutschland Arbeitslosengeld II. 2020 waren in Westdeutschland 15,5 Prozent der Menschen von Armut bedroht, im Osten 18,5 Prozent. Impfverweigerung hat komplexe Ursachen und hängt nicht nur von Bildung und sozialer Sicherung ab – als Faktoren müssen sie aber stärker beachtet werden.

Noch einmal: Weil uns die „Querdenker“ so beschäftigen, verlieren wir das Muster erfolgreicher Impfkampagnen und damit ein Kernproblem immer wieder aus den Augen: Nur im persönlichen vertrauensvollen Gespräch vor Ort lassen sich irrationale Ängste beheben – dafür braucht es Personal, Zeit und Nähe, die gab es schon vor Corona immer seltener. Wer hier pauschal „Impfgegner“ schreit, übersieht diskriminierte Menschen, die in einem kaputtgesparten Gesundheitssystem von medizinischen Leistungen ausgesperrt sind.

Wer gelernt hat, dass Hörgeräte, Brillen, Zahnersatz nahezu unerreichbar sind, soll nun „Eigeninitiative“ zeigen, weil er sonst als asozial gilt? Das Gegenteil ist richtig. Wer Hundertausende Menschen marginalisiert, muss sich nicht wundern, wenn diese der ärztlichen Versorgung erst einmal nicht vertrauen.

Schrei nach strafbewehrter Corona-Impfung bezeugt, dass Armut nicht verstanden wird

Wenn jetzt hilflos lavierend eine Impfpflicht gefordert wird, dann ist das ein Armutszeugnis. Der Schrei nach strafbewehrter Impfung bezeugt, dass Armut nicht verstanden wird. Dass Exekutive und Legislative die strukturellen Probleme nicht angehen und dass sie weder die Situation benachteiligter Menschen verstehen, noch über die Mittel verfügen, sie zu erreichen.

Es kann deswegen so kommen, dass die Impfpflicht die einzige Möglichkeit darstellt, der Pandemie noch Herr zu werden – aber es wird eine augenwischende Kurzfristhilfe sein. Die darunter liegenden strukturellen Probleme werden mit jeder Krise noch stärker zurückkommen.

Das Richtige richtig tun – es ist immer noch Zeit dafür. Es gibt eine Erkenntnis nach zwei Jahren Pandemie: Impfen hilft. Niemand weiß exakt wie intensiv oder wie lange. Aber dank der Vakzine gibt es weniger Tote, die Krankheit verläuft milder und die Folgen sind überschaubar.

Corona in Deutschland: Gute Kommunikation als Hauptaufgabe der politisch Verantwortlichen

Richtig ist, dass es hierfür einen Expertenrat gibt. Richtig ist auch, dass die Bund-Länder-Konferenz nun klare Vorschriften für Tests für Geimpfte und Genesene etwa in Restaurants ausspricht und Party und Kontakte einschränkt. Völlig akzeptabel ist, dass Quarantäne-Regeln angepasst werden, um den Ausfall großer Berufsgruppen zu verhindern. Ein Großteil der Bevölkerung hat längst bewiesen, dass er klug und umsichtig handelt, wenn die Regeln verständlich formuliert sind. Die Hauptaufgabe der politisch Verantwortlichen ist jetzt gute Kommunikation.

Daneben ist es höchste Zeit für ein Sozialgremium, das nicht nur die Hürden für die Impfung massiv senkt, sondern soziale Einschränkungen insgesamt in den Blick nimmt. Es ist noch nicht zu spät, die Statik von Gedankengebäuden ins Wanken zu bringen und endlich mit dem Umbau für eine Welt nach Corona zu beginnen. (Thomas Kaspar)

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