EU-Ratspräsidentschaft: Angela Merkel führt - aber stimmt die Richtung?

Deutschland hat die Führung in der EU übernommen. Europa stärken, ist das Motto. Aber Merkels Kurs und ihre bisherige Politik wecken auch Zweifel. Der Leitartikel.
Erstaunliches war in den vergangenen Tagen zu lesen: In Griechenland freuen sich die konservative Regierung und die linke Opposition gemeinsam auf ein Europa unter deutscher Führung. Der Kanzlerin Angela Merkel trauten sie zu, die Europäische Union gestärkt aus der Corona-Krise zu führen.
Falls sich jemand erinnert: Angela Merkel, das ist die Politikerin, die an führender Stelle für die Spardiktate gegenüber Griechenland verantwortlich war – und dafür nicht nur berechtigten Protest erntete, sondern auch Wut bis hin zu persönlichen Beleidigungen. Es ist die Politikerin, die zwar von „Solidarität“ sprach, aber unter Europa nie etwas anderes verstand als eine Form nationaler Wettbewerbsfähigkeit, die vor allem in unerbittlicher Konkurrenz der Staaten um Marktanteile für Exportgüter bestand – und im Zweifel durch Einsparungen in den Sozial-, Gesundheits- oder Bildungsetats zu erkaufen war.
EU-Führung: Angela Merkel hat astronomische Militärausgaben zu verantworten
Es ist auch die Politikerin, die zwar in einem entscheidenden Moment die Grenze für Geflüchtete nicht schloss, aber davor und danach die Verantwortung für Migrantinnen und Migranten bei EU-Außenstaaten wie Griechenland ablud.
Und es ist die Politikerin, die für eine eigenständigere Rolle Europas in der Welt relativ wenig tat, weil sie auch noch nach dem Amtsantritt von Donald Trump unverbesserlich an die Haltbarkeit der transatlantischen Partnerschaft glaubte – und sich im Rahmen der Nato auf eine astronomische Erhöhung der Militärausgaben einließ. Was die Bemühungen, mit dem schwierigen europäischen Nachbarn Russland wenigstens ein Minimum an produktivem Gesprächskontakt zu halten, nicht gerade erleichterte.
Nun also, im Herbst ihrer Kanzlerschaft, wird Angela Merkel noch einmal offiziell zur europäischen und internationalen Führungsfigur: Deutschland übernimmt nicht nur die Ratspräsidentschaft der EU, sondern auch den Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Und obwohl die eben skizzierte Bilanz keineswegs so glänzend ist wie Merkels Ruf als Europäerin und Weltstaatsfrau, gilt sie schon wieder als Hoffnungsträgerin. Nicht nur in Griechenland.
Angela Merkel - Gegenpol zu Politikern wie Donald Trump
Das ist durchaus erklärbar. Während Testosteron in vielen Ländern mehr und mehr zum wichtigsten Treibmittel politischer Führung geworden zu sein scheint, wirkt Merkels ruhiges und rationales Auftreten umso angenehmer. Da kann schon mal die Aufmerksamkeit für die Frage schwinden, welchen mehr oder weniger nützlichen Zielen die Rationalität, mit der sie vorgeht, eigentlich dient. Zudem kommt Deutschland bisher besser durch die Corona-Krise als andere, und dass sich in Griechenland die Stimmung dreht, hat ohnehin seinen Grund: Bei der Bekämpfung der Pandemie lässt Berlin sich erstmals auf gemeinschaftliche EU-Kredite ein.
Nun also will die große Koalition „Europa stärker machen“, und zwar „gemeinsam“. Schwerpunkte sind – neben dem Riesenprojekt der wirtschaftlichen Erholung nach Corona – die Klimapolitik, die Digitalisierung und die „Rolle Europas in der Welt“.
Das ist eine ganze Menge und längst noch nicht alles, siehe nur den Brexit oder die radikal reformbedürftige Landwirtschaftspolitik. Sollten also nicht überall innerhalb eines halben Jahres ausgereifte Ergebnisse vorliegen, wäre das der deutschen Ratspräsidentschaft nicht vorzuwerfen. Die zentrale Frage ist allerdings nicht, ob die Dinge schon endgültig geregelt oder „nur“ angeschoben werden. Entscheidend ist, in welche Richtung das Anschieben geht.
Gemeinsame Kreditaufnahme wegen Corona
Unter dieser Perspektive kann die Prognose schon jetzt nicht besonders positiv ausfallen. Beim Klima hält sich Deutschland immer wieder mit dem vermeintlichen Widerspruch zwischen ökologischer Erneuerung und ökonomischem Wohlstand auf. Bei der Digitalisierung liegt es im Vergleich der großen Volkswirtschaften allenfalls im Mittelfeld. Der Ansatz wirtschafts- und finanzpolitischer Solidarität, der in der gemeinsamen Kreditaufnahme wegen Corona steckt, wird von Merkel fast täglich als Ausnahme dargestellt und gerade nicht als Einstieg in eine echte Wirtschafts- und Sozialunion. Und in der Flüchtlingsfrage wird sich am inhumanen Prinzip der Abschottung und Abschreckung nach außen nichts ändern – weil keine EU-Regierung das will, auch die von Angela Merkel nicht.
Und die Rolle in der Welt? Der Schriftsteller Gert Heidenreich hat gerade in der FR eine „bittere Wahrheit“ benannt: „Europa hat keinen Verbündeten. Es kann sich nur noch mit sich selbst verbünden. Und eben das ist seine Stärke oder könnte es sein, wenn wir den geschichtlichen Augenblick erkennen und ergreifen.“ Es sei höchste Zeit „für ein stabiles bundesstaatliches Europa – also für das, was Trump wie Putin verhindern wollen“. Und weiter: „Der kritische Dialog mit den USA wäre dann eine realistische Alternative. Das Bündnis hingegen ist – zumindest bis zu einer grundsätzlichen Kehrtwende der amerikanischen Politik – eine verlorene Illusion.“
Deutschland und Europa sind weit davon entfernt, dieser Erkenntnis zu folgen. Und das wird sich im kommenden halben Jahr auch nicht ändern – leider.