Europa und die Ursachen von Flucht: Begrenzte Humanität

Das Erdbeben in Syrien und der Türkei führt vor Augen, wie prekär Menschen in vielen Staaten leben – und wie blind Europa dafür ist. Der Leitartikel.
Es gibt Ereignisse, die die Welt weinen lassen, das Erdbeben in der Türkei und Syrien ist so eines. Die Berichte vom kaum fassbaren Ausmaß des Unglücks sind kulminiert in einem Foto, das im kollektiven Gedächtnis bleiben wird: Da sitzt ein Mann, Mesut Hancer heißt er wohl, stumm auf einem riesigen Trümmerberg und hält die Hand seiner verschütteten, toten Tochter, offenbar viele Stunden lang. Man möchte hinrennen und ihm helfen, sie herauszuziehen, als ob es noch eine Chance gäbe – ein Grenzen und Kulturen überschreitender Impuls der Humanität.
Was passiert da gerade mit uns? Wir erleben hautnah, obwohl 4000 Kilometer entfernt, Bilder überwältigender Zerstörung, Verzweiflung – und darin vor allem der Menschlichkeit. Wir sehen überbordende, bis zur Erschöpfung reichende Solidarität und Hilfsbereitschaft dort wie hier. In abgelegenen Dörfern graben die Menschen Tag und Nacht und riskieren ihr eigenes Leben. Hier bei uns bestaunen wir, wie Menschen mit Wurzeln in der betroffenen Region – und auch andere – binnen Stunden Berge von Hilfsgütern gesammelt und Transporter losgeschickt haben.
In der Katastrophe liegt damit immerhin eine Chance: die, uns hier im sicheren Europa die Augen zu öffnen über schwere Schieflagen im öffentlichen Denken und politischen Handeln. Es geht um die Menschen, die von zu vielen nur noch holzschnittartig als Migrant:innen oder Geflüchtete wahrgenommen werden, die Probleme machen oder machen könnten.
Europa und die Ursachen von Flucht: Grenzüberschreitende Identitäten bergen Chancen
Zum Beispiel: Wenn ein junger türkischstämmiger Dortmunder jetzt in passablem Deutsch in das Reportermikro sagt: „Ich hab mir sofort Urlaub genommen, ich sammel’ Hilfsgüter für meine Leute in der Heimat“ – dann zeigt er uns: Sein Heimatbegriff ist ein transnationales Potenzial. Eines, das dieses Land an vielen Stellen noch viel besser ausschöpfen könnte – allein schon mit mehr Mut zum Doppelpass. Grenzüberschreitende migrantische Identitäten bergen Chancen der Verbindung, das erleben wir gerade nicht zum ersten Mal. Anders als es die Populist:innen von rechts und von der politischen Mitte gern darstellen, zeugen solche Identitäten allenfalls bei wenigen von bedenklichen Integrationsdefiziten oder gar -unwilligkeit.
Außerdem: Die Erdbebenfolgen vor Ort werden noch deutlich verschärft durch die politischen Begleitumstände dort: teils bewaffnete Langzeitkonflikte, schleppende oder verweigerte staatliche Hilfe, aktuelle türkische Bombardements in Nordsyrien, versperrte Grenzübergänge. Wie durch ein Brennglas erlebt die internationale Öffentlichkeit mit, was Menschen zermürbt und ihnen Lebensperspektiven rauben kann. Das sollte für die Politik Anlass sein, sich endlich wieder an eine aus der Mode gekommene Perspektive zu erinnern: die, die nach Fluchtursachen fragt und diese auch ernst nimmt.
Europa und die Ursachen von Flucht: Humanität endet, wenn Menschen sich auf den Weg machen
Naturkatastrophen, politische Willkür und Gewalt, rückständige Infrastruktur und Bildungssysteme: Niemand verlässt die Heimat leichtfertig. Aber wie werden überlebende Erdbebenopfer aus Syrien, denen Europas Regierungen jetzt Anteilnahme bekunden, wohl empfangen, wenn sie in ein, zwei oder drei Jahren an einer EU-Grenze stehen? Von noch mehr Zäunen, Grenzschutz und Flüchtlingsabwehr. Genau darauf laufen die Pläne der EU-Kommission und vieler Mitgliedstaaten hinaus, die aktuell beim Gipfel wieder diskutiert werden. Niemand ist da mehr gegen mehr Grenzschutz, gestritten wird nur darüber, wer ihn bezahlt.
Faktisch hat sich die EU an dieser wie vielen weiteren Stellen längst weitestgehend von ihrer menschenrechtlichen Verpflichtung verabschiedet, legitime Fluchtgründe anzuerkennen. Lebte der verzweifelte Mesut Hancer etwa in Idlib und wollte er irgendwann nach Europa, er hätte schlechte Karten. So gesehen, entpuppt sich die aktuelle vielstimmige Anteilnahme der EU-Staaten an den Opfern als begrenzte Humanität – sie endet meist, wenn die Menschen sich auf den Weg machen.
Europa und die Ursachen von Flucht: Gründe am Zufluchtsort bleiben zu dürfen
Dabei gäbe es wichtige Lehren, die aus der Katastrophe zu ziehen wären. Verbunden mit dem wieder zu entdeckenden Respekt vor Fluchtursachen sollte das die Einsicht sein, dass mit der Politik des Abschiebens um jeden Preis Schluss sein muss.
Natürlich verbietet es sich aktuell, Menschen in die Krisengebiete in der Türkei und Syrien zurückzuschicken – entsprechende Behördenentscheide sind überfällig. Einsicht heißt aber auch: Endlich wieder akzeptieren, dass Abschiebungen kein Mittel der Kriminalitätsbekämpfung sein dürfen, wenn die Betroffenen in ihrer Heimat gefährdet sind. Das Völkerrecht zeigt hier klare Grenzen auf. Es ist eine gefährliche Anpassung an rechte Stimmungsmache, dass inzwischen kaum noch eine politische Partei bei uns diese Grenzen verteidigt
Menschen haben Gründe, zu fliehen, und deshalb auch viele Gründe, am Zufluchtsort bleiben zu dürfen. Wenn wir das wieder lernen, hätte die Humanität ein bisschen Boden gutgemacht. (Ursula Rüssmann)