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Deutschlands neue alte Freunde in Lateinamerika

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Von: Klaus Ehringfeld

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 Nicolás Maduro ist in den vergangenen zwölf Monaten vom Paria zum Partner geworden.
Nicolás Maduro ist in den vergangenen zwölf Monaten vom Paria zum Partner geworden. © FEDERICO PARRA/AFP

In der veränderten geopolitischen Lage gewinnen die Staaten Lateinamerikas für Europa wieder an Bedeutung. So zynisch ist Realpolitik. Der Leitartikel.

Um die Reise des Kanzlers nach Südamerika richtig einordnen zu können, sollte man zunächst einen kurzen Blick auf ein bestimmtes Land der Region werfen: Venezuela. Dort war Bundeskanzler Olaf Scholz jetzt nicht, aber wer weiß, wenn es dort viel Gas und Kohle geben würde… Gemach, gemach.

Aber tatsächlich ist der dortige autoritäre Herrscher Nicolás Maduro in den vergangenen zwölf Monaten vom Paria zum Partner geworden – und das hat nicht mit etwaigen demokratischen Anwandlungen zu tun. Die gibt es nicht. Aber Maduro sitzt auf den weltweit größten Ölreserven. Und seit der Überfall Russlands auf die Ukraine den halben Globus in Energienöte getrieben hat, ist der autoritäre Nationalist plötzlich nicht nur wieder für die USA interessant, sondern für den gesamten Westen. In der veränderten geopolitischen Lage gewinnt Lateinamerika wieder an Bedeutung. So zynisch ist Realpolitik. Und in diesem Zeichen stand die Kanzlerreise nach Argentinien, Brasilien und Chile eben auch ein wenig.

Nun wäre es unfair, der deutschen Politik vorzuwerfen, sie wolle in Südamerika nur das wichtige Lithium und sonstige spannende Rohstoffe abgreifen. Aber um es mit dem Kanzler zu sagen: In diesen schweren Zeiten ist es besonders wichtig, gute Freunde zu haben. Man darf das durchaus vor allem wirtschaftlich verstehen. Denn politisch sehen vor allem Argentinien und Brasilien die Parteinahme Europas und die Waffenlieferungen an die Ukraine kritisch.

Natürlich stand die Reise von Scholz auch sehr im Zeichen der Sicherung von Energie, Nahrungsmitteln und Rohstoffen. Das hat er auch gar nicht verheimlicht. Aber es war gut zu sehen, dass der Sozialdemokrat in Argentinien den Opfern der Militärdiktatur (1976 bis 1983) gedacht hat, dass er in Chile helfen will, an die Misshandelten der Colonia Dignidad mit einer Gedenkstätte zu erinnern und dass er in Brasilien Präsident Lula da Silva den demokratischen Rücken gestärkt hat.

Scholz war der erste Vertreter eines wichtigen Landes, der den neuen alten Linkspräsidenten nach dem Putschversuch von radikalen Anhängern und Anhängerinnen seines Vorgängers Jair Bolsonaro besucht hat. Das ist wichtig, um auch Lulas Feinden im Innern zu zeigen: Die Welt steht hinter dem Staatschef des größten und wichtigsten Landes Lateinamerikas. In wenigen Tagen fährt Lula zu Präsident Joe Biden in die USA, am kommenden Monat besucht er in Peking Staats- und Regierungschef Xi Jinping. Lula hat Brasilien wieder auf die internationale Bühne gehievt, auch wenn er daheim noch viele Monate damit zu tun haben wird, die Schäden des „Bolsonarismus“ zu reparieren.

Ach ja, und dann ist da ja auch noch das große Thema, das Deutschland und Europa umtreibt. Das Klima, die Umwelt und natürlich der Amazonas, dessen Abholzung Lula perspektivisch stoppen will, damit der Globus nicht zum Treibhaus wird. Deutschland unterstützt das Waldschutzprogramm der neuen Regierung mit 200 Millionen Euro. Auch hier gilt die Win-win-Logik. Eine Unterstützung für Lulas Politik geht einher mit einem global wichtigen Ziel.

Bei seiner ersten großen Reise außerhalb Europas in diesem Jahr hat der Kanzler also alte Freunde neu entdeckt. Es wurde auch höchste Zeit, denn Berlin und auch Brüssel haben die weit entfernte Region mit einer halben Milliarde Menschen in den vergangenen Jahren sträflich vernachlässigt. Dabei hat nirgendwo sonst die deutsche Einwanderung und die Migration anderer europäischer Nationen nachhaltigere Spuren hinterlassen. Das gilt besonders für die drei besuchten Länder. Das Vakuum haben lange schon Russland und vor allem China gefüllt, was man gerade am Lithium sehen kann. Hier hat sich Peking einen fast unverrückbaren Vorteil verschafft, um sich die Vorräte des Leichtmetalls zu sichern, das für Autobatterien unerlässlich ist. Nun müssen sich die früheren Alliierten auf dem alten Kontinent strecken, um Terrain zurückzugewinnen.

Dabei braucht Lateinamerika gerade jetzt Unterstützung, denn die großen wie kleinen Staaten taumeln politisch und sozial zwischen radikal, moderat links und schlicht unregierbar. Zentralamerika droht zur „failed region“ zu werden, weil die organisierte Kriminalität dort vielerorts längst dem Staat das Machtmonopol streitig macht. Aber auch für Mexiko und Kolumbien gilt das in Ansätzen. Dabei lohnt sich ein genauerer Blick in die Region wie gerade nach Chile oder Kolumbien, weil dort interessante links-moderne Projekte an der Macht sind. Die Regierungen sind klimabewusst, in jeder Hinsicht inklusiv und antiautoritär. Hier könnten sich manche Länder Europas etwas abschauen.

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