Das Erbe der Paulskirche – und die gefährdete Demokratie

Die Geschichte der Demokratie ist geprägt von Euphorie und Niederlagen. Viele Menschen glauben nicht mehr an ihre Versprechen. Der Leitartikel.
Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen. Zweifellos ein schöner Satz, der in knapper Form beschreibt, warum Menschen für Freiheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung kämpfen, warum sie für diese Vision nicht selten sogar den Tod riskieren. Ohne Luft lässt sich nicht leben.
Dennoch klingt dieser Satz aus heutiger Sicht fast wie Hohn – denn gesagt hat ihn Michail Gorbatschow, der letzte Staatspräsident der Sowjetunion. Und wie die Sache weitergegangen ist, wissen wir, wenn wir auf den besessenen Autokraten Putin blicken, auf eine russische Bevölkerung in aggressiver Depression und den von imperialem Größenwahn befeuerten Krieg in der Ukraine.
Geschichte der Paulskirche erzählt von Euphorie und Niederlage
Offenbar bewegt sich die Geschichte der Demokratie im Krebsgang. Mal geht es vorwärts, dann rückwärts, manchmal zur Seite und nicht selten im Kreis. Statt sich stetig weiterzuentwickeln, ist diese Organisationsform des Gemeinwesens gezeichnet von Rückschlägen, vom Scheitern und Versagen. Auf den Aufbruch folgt nicht selten der Abbruch. Auf die Euphorie zu oft die Enttäuschung. Dennoch überlebt die Idee von der Herrschaft des Volkes über das Volk seit über zweitausend Jahren – und beweist damit zweifellos Resilienz, Beständigkeit und einen langen Atem.
Von Euphorie und Niederlage erzählt auch die Geschichte der Paulskirche. Als dort 1848 die Delegierten der Frankfurter Nationalversammlung tagten, wehte in vielen deutschen Landen ein revolutionärer Geist. Freiheit! Bürgerrechte! Weg von der Herrschaft der Fürsten! Die Parlamentarier verabschiedeten eine Verfassung und erarbeiteten einen Grundrechtskatalog, der noch heute erstaunlich modern wirkt.
Die erste demokratische Bewegung in Deutschland hatte sich mit idealistischem Feuer auf den Weg gemacht – um nur kurze Zeit später blutig niedergeschlagen zu werden. Die Revolution scheiterte, die Freiheitsversprechen wurden brutal unterdrückt. Die Restauration siegte, das gesamtdeutsche Parlament, der Liberalismus, die Demokratie hatten verloren. Tatsächlich?
Wer sich den Zustand der liberalen Demokratie heutzutage und hierzulande anschaut, wird zweierlei feststellen. Der freiheitliche Rechtsstaat, dem deutschen Volk nach 1945 zwangsverordnet, hat sich nachhaltig behauptet. So weit die Erfolgsgeschichte. Doch die parlamentarische Demokratie gerät zunehmend in Bedrängnis, gut die Hälfte der Bevölkerung ist aktuell nicht mit ihr zufrieden, in Ostdeutschland sind es sogar zwei Drittel.

Je schlechter es den Menschen ökonomisch geht, desto unzufriedener sind sie mit der demokratischen Praxis
Unter den Kritikerinnen und Kritikern gibt es die Demokratieverächtenden rund um die AfD, die das Parlament für ihre ideologischen Attacken nutzen – unterstützt von rechtsextremen Kreisen, die ihren Demokratieprotest auf die Straße tragen. Da gibt es aber auch die anderen, diejenigen, welche die Demokratie als Regierungsform durchaus schätzen, aber bezweifeln, dass das repräsentative Modell gut funktioniert. Sie favorisieren mehr direkte Einflussnahme oder auch eine Expertenregierung mit nicht gewählten Fachleuten. Dabei gilt: Je schlechter es den Menschen ökonomisch geht, desto unzufriedener sind sie mit der demokratischen Praxis.
Dieser Befund lässt sich im Prinzip auf den Rest der Welt übertragen. Wo der globale Finanzkapitalismus im Verein mit ausbeuterischen, transnationalen Wirtschaftsunternehmen seine Verheerungen anrichtet, glauben die Menschen im globale Süden kaum einem Versprechen des globalen Nordens. Auch nicht der Vision einer Politik, in der Freiheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Menschen gleichermaßen gelten.
Zukunftssehnsucht Demokratie? Selbst in Ländern, wo keine barbarischen Regierungen herrschen, selbst dort, wo demokratische Standards bereits eingeführt wurden, sind Menschen immer seltener bereit, für diese zu streiten. Ein entscheidender Grund: Das hässliche Gesicht der doppelten Standards, die westliche Demokratien in fast allen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Bereichen anlegen, wirkt zunehmend abschreckend.
70 Länder werden von autokratischen Regimen geführt
Weltweit werden derzeit bereits 70 Länder von autokratischen Regimen geführt, und keineswegs sind alle übrigen Staaten vollwertige Demokratien, sondern oft genug nur ein Abklatsch davon. Das globale Demokratieniveau ist auf den Stand von 1989 zurückgefallen. Gewaltenteilung, faire Wahlen, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Presse- und Meinungsfreiheit – mit all diesen Rechten, die Ausweis wertiger Demokratien sind, ging es im vergangenen Jahrzehnt abwärts.
Doch ist die Geschichte der Demokratie nicht eine im Krebsgang? Dafür steht stellvertretend auch die Nationalversammlung in der Paulskirche, deren Jubiläum wir in diesem Jahr feiern. Die Revolution von 1848 wurde niedergeschlagen – und hat dennoch weitergelebt. Ihre Kraft, ihr langer Atem wirkten in der Weimarer Reichsverfassung ebenso wie in unserem Grundgesetz. Als Meilenstein und als Versprechen. (Bascha Mika)