Corona-Krise: Eine bittere Lehrstunde für Lauterbachs Expertenrat

In Deutschland arbeiten weltweit führende Virolog:innen – doch ihre Stimme wird zu wenig gehört. Der Leitartikel.
Als das neuartige Coronavirus sich auf den Weg machte, die Welt zu verändern, blickte diese mit Respekt nach Deutschland. Die Einschränkungen ließen die erste Welle kleiner ausfallen als anderswo. Maßgeblich dazu beitrugen die Virolog:innen des Landes mit ihren Empfehlungen, denen Bund und Länder folgten. Und Christian Drosten von der Berliner Charité: Er ist wissenschaftlich weltweit führend, und erklärt zugleich komplizierte Dinge so, dass sie allgemein verständlich werden. Eine außergewöhnlich seltene doppelte Expertise.
So inhaltlich richtig die Ergebnisse waren, so ungeschickt lief die politische Umsetzung. Es waren die Kanzlerin und die Ministerpräsident:innen, die die Beschlüsse auf Grundlage der Empfehlungen der Virologie fassten. Bundestag und Landtage stimmten nur zu – quasi als Formsache.
In der Corona-Krise geriet die Wissenschaft und nicht die Politik in die Kritik
Das vergab die Chance, mit dem öffentlichen Austausch von Fachwissen und Argumenten in den Parlamenten die Menschen mitzunehmen. In der Folge geriet aber nicht der Politikbetrieb in die Kritik, sondern die Wissenschaft – die Rede war von einer „Diktatur der Virologen“.
Der Vorwurf trieb Fachleute und Regierungen auseinander. Während die Virologie nun betonte, ausschließlich Vorschläge aus epidemiologischer Sicht zu unterbreiten, arbeiteten die politisch Verantwortlichen heraus, sie müssten Entscheidungen mit rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen, bildungspolitischen und vielen weiteren Fragen abwägen.
Corona: Die Stimme der Wissenschaft geht zunehmend unter
Zugleich wurden Lobbyist:innen lauter. Hotels und Gaststätten, Handel, Profisport, öffentlicher Personennahverkehr, Arbeitgeber:innen: Ein Interessenverband nach dem anderen erklärte, der jeweils eigene Bereich treibe keinesfalls die Corona-Zahlen nach oben – und müsse von Einschränkungen verschont bleiben.
Im Stimmengewirr ging die Wissenschaft zunehmend unter. Gehört wurde sie in den folgenden Wellen erst dann, als es zu spät war. Wesentlich trug dazu die tückische Eigenschaft von Corona bei, sich exponentiell auszubreiten. Beta, Delta, Omikron – selbst wenn der Anteil einer neuen Variante an den Infektionen noch sehr gering ist, gilt es im Wesentlichen als eine Frage der Mathematik, ob und wie schnell sie sich ausbreitet.
Corona-Krise in Deutschland: Zahlen steigen wieder massiv an
Das Problem dabei: Den Anfang kennzeichnet eine lange Zeit mit kleinem Wachstum. Die Virologie warnt, wird aber kaum ernst genommen, weil die Veränderungen gering sind – und sicher auch die Hoffnung der Entscheidungsrunden mitschwingt, es werde vielleicht nicht so schlimm, es brauche doch keine unangenehmen Reaktionen.
Natürlich folgt das dicke Ende. Vermeintlich von jetzt auf eben steigen die Zahlen rasant, und Abhilfe schaffen nur Einschnitte, die viel massiver sein müssen als früher einsetzende. Das war bei der zweiten Welle so, so war es bei Delta, so könnte es mit Omikron enden.
Corona: RKI-Präsident Lothar Wielers verräterisches Lachen
Wie sehr es Fachleute wurmt, dass ihre Warnungen wenig Gehör finden, zeigte unfreiwillig der Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler. Als er zum letzten Mal in der Bundespressekonferenz neben Jens Spahn saß und gefragt wurde, ob er den scheidenden Gesundheitsminister vermissen werde, war von ihm nur ein spontanes kurzes und lautes Lachen zu hören. Später fügte er knapp dazu, vielleicht vermisse man sich ja, wenn man sich nicht mehr sehe. Wohl eher nicht.
Der Mediziner und SPD-Politiker Karl Lauterbach war da schon Talkshow- und Twitterstar. Inzwischen ist er auch Bundesgesundheitsminister – und verkündet als Konzept, wieder mehr der Wissenschaft folgen zu wollen. „Expertenrat“ nennt er sein Gremium mit 19 Fachleuten, dem übrigens auch fünf Expertinnen angehören – und Forschende, die bisher durchaus konträre Positionen vertreten.
Corona: Wie wissenschaftsnah ist Gesundheitsminister Karl Lauterbach wirklich?
Am 19. Dezember machte die Runde ihr Papier mit dem Titel „Einordnung und Konsequenzen der Omikronwelle“ (PDF) publik. Zwei Tage später diskutierten die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten und der Bundeskanzler die nächsten Schritte. Kurz vor diesem Treffen veröffentlichte RKI-Chef Wieler, selbst einer der Experten des Rats, ein Papier, das Einschränkungen fordert, die härter und vor allem schneller sein sollten als das, was Bund und Länder besprachen.
Kanzler Olaf Scholz und Lauterbach zeigten sich verärgert – und ignorierten die Forderungen. Das RKI sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, gegen ein Konsenspapier vorzugehen, das es selbst mit erarbeitet habe. Doch wer die Konzepte nebeneinander legt, wird feststellen, dass die Empfehlungen des Rats deutlich näher an jenen des RKI liegen als an den Beschlüssen der Bund-Länder-Runde. Die wollte offenbar den Menschen nicht die familiären Weihnachtstreffen verderben. Einmal mehr werden die nicht-epidemiologischen Aspekte höher gewichtet.
Der Expertenrat dürfte lernen, Angaben wie „Handlungsbedarf bereits für die kommenden Tage“ sind konkreter zu fassen, wenn für Bund und Länder kein Schlupfloch bleiben soll. Erkennbar ist auch, dass Lauterbach, der den Beschluss mitträgt, offenbar schnell in seiner politischen Rolle angekommen ist. Dass mit seiner Ernennung Corona-Entscheidungen wieder mehr den Erkenntnissen der Wissenschaft folgen, muss er jedenfalls erst noch beweisen.