Corona-Impfpflicht fällt im Bundestag durch: Ein Debakel
Die Politik verfehlt in der Corona-Frage jede Marke – nun ist auch die groß angekündigte Impfpflicht zunächst vom Tisch. Der Leitartikel.
Frankfurt – Die Impfpflicht fällt im Bundestag durch – Schlusspunkt einer völlig verfehlten Corona-Politik der Ampelkoalition. Seit zwei Jahren ist es die Frage, die uns am meisten beschäftigt: Wie schützen wir uns vor dem Coronavirus? Wie verhindern wir, dass das gesellschaftliche Leben immer wieder zum Erliegen kommt, Kontakte und Kultur, Wirtschaft und Bildung leiden? Die Antwort kennen wir seit mehr als einem Jahr: indem sich möglichst viele impfen lassen.
Die wichtigste politische Aufgabe dieser Zeit ist also, die Menschen dazu zu bewegen, sich die Piekse zu holen. Doch was wir seit dem Vorstoß des Ende November noch designierten Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD), eine allgemeine Impfpflicht müsse spätestens Anfang März gelten, erleben, ist ein Totalversagen der Ampelkoalition. Weniger überzeugend und zielführend hätte sie die Debatte kaum gestalten können.
Corona-Politik auf Pannenkurs – Ohne Impfpflicht in die nächste Welle
Von jetzt auf eben entzogene Genesenen-Status; das Aus für die epidemische Lage von nationaler Tragweite mitten in einer ansteigenden Infektionswelle; ein Gesundheitsminister, der den Handel anflehen muss, via Hausrecht Masken zu verlangen, weil er keine Befugnisse mehr hat; die irrsinnige Idee, es Infizierten zu überlassen, ob sie sich isolieren oder nicht – unabgesprochen zurückgenommen in einer Talkshow: Dieser Pannenkurs fand seinen bisherigen Höhepunkt gestern im Bundestag. Mit dem Ergebnis, dass wir ohne jegliche Art von allgemeiner Impfpflicht – und damit kaum geschützt – in die nächste Corona-Welle gehen.
Auch die Idee der Bundesregierung, keinen eigenen Gesetzentwurf für eine allgemeine Impfpflicht vorzulegen, gehört auf die Liste der grundlegenden Fehler. Versprochen wurde eine Sternstunde des Parlamentarismus, in der Abgeordnete in der Grundrechte betreffenden Impffrage ihrem Gewissen folgend Argumente austauschen. Doch es war allzu offensichtlich, dass es den Ampel-Parteien weniger um eine Stärkung der Debattenkultur ging – sondern schlicht darum, die Zerstrittenheit der Koalitionspartner zu verschleiern.
Sternstunde für Corona-Impfpflicht fällt aus
Zu allem Überdruss fiel gestern dann selbst die angekündigte Sternstunde aus. Die Auseinandersetzung im Bundestag prägten vielmehr Fragen zur Geschäftsordnung. Im Kern ging es darum, in welcher Reihenfolge die verschiedenen Vorschläge zu behandeln seien. Selbst hier erreichten Politiker:innen aus den Ampel-Fraktionen nicht mehr als Kopfschütteln: Entgegen jeglichen Gepflogenheiten sahen sie ihren Entwurf ganz am Ende, obwohl sinnvollerweise bei mehreren Vorschlägen stets zunächst der weitestgehende behandelt wird. Natürlich ging es auch hier darum, irrationales Verhalten in Kauf zu nehmen, um die eigene Schwäche auszugleichen – sprich: die Chancen für den eigenen Vorstoß zu verbessern. Das ging dann selbst manchen Abgeordneten der Regierungskoalition zu weit; der Antrag fiel durch.

Auch die Union als größte Opposition zeigte in der so wichtigen Corona-Frage wenig staatstragende Verantwortung. Sie schwor ihre Fraktion darauf ein, nur für einen eigenen Vorschlag zu stimmen – obwohl der Kompromissvorschlag aus dem Regierungslager am Ende inhaltlich nicht weit entfernt lag. CDU und CSU konnten der Versuchung nicht widerstehen, der schwächelnden Regierung eins auszuwischen. Parteipolitisch punkten ist der Fraktion unter Friedrich Merz (CDU) offenbar wichtiger, als dabei mitzuwirken, das Land aus der Corona-Krise zu führen.
Unsere Zukunft mit Corona – Impfpflicht braucht neuen Anlauf
Die Gesichter vieler Politiker:innen der Regierungskoalition vermittelten nach der Abstimmung fast schon den Eindruck einer Schockstarre. Vielleicht dämmerte ihnen, dass diese Abstimmung eine Zäsur sein könnte. Und zwar nicht nur bezogen auf die inhaltliche Frage, wie wir künftig mit Corona umgehen, wenn die Grundimmunisierung der Bevölkerung nicht gelingt. Manchen im Bundestag dämmerte vielleicht auch, dass sich in einer Koalition nicht gut Politik machen lässt, der Einigkeit in zentralen Fragen fehlt. Corona ist – neuerdings neben dem Krieg in der Ukraine – für viele Menschen das wichtigste Thema überhaupt. Sie erwarten hier mit Recht ein engagiertes Vorgehen auf Grundlage rationaler Kriterien – und nicht ein chaotisches Hin und Her als Ergebnis eines innerkoalitionären Interessenausgleichs.
Mit etwas Glück lässt sich das Coronavirus mit einer gefährlicheren Variante tatsächlich – wie vielfach unterstellt – Zeit bis zum Herbst. Bundesregierung, Opposition und die Länder sollten sich besinnen – und gemeinsam einen neuen Anlauf zu einer allgemeinen Impfpflicht nehmen. Und dabei im Auge behalten, dass sich neue Varianten meist in wenigen Wochen durchsetzen. Reagieren müssen wir deshalb schon vorher. (Michael Bayer)