Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan: Die Ziele wurden deutlich verfehlt

Nach dem Desaster in Afghanistan muss sich die deutsche Politik ehrlich machen. Hat sie sich den Einsatz der Bundeswehr 20 Jahre lang schöngeredet? Der Leitartikel.
Eine schonungslose Aufarbeitung des gescheiterten Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr ist so notwendig, wie sie schmerzhaft sein wird. Denn weite Teile der politischen Elite in Deutschland müssen sich fragen lassen, ob sie sich und die Öffentlichkeit jahrzehntelang getäuscht haben. Ob sie die Augen fest zugedrückt haben, wenn Fehlschläge und Misserfolge unübersehbar wurden; ob sie das Desaster nicht wahrhaben oder sogar verschleiern wollten.
Aufklärung tut not, um die richtigen Lehren zu ziehen. Für andere Auslandseinsätze, aber letztlich für die gesamte Außen- und Sicherheitspolitik, die – nicht nur wegen Russlands Krieg gegen die Ukraine – mehr braucht als vereinzelte Kurskorrekturen. Sie muss wieder lernen, sich infrage zu stellen. Was einschließt, das eigene Handeln regelmäßig einem Realitätscheck zu unterziehen. Womit wir beim Kern des Problems sind: Der Afghanistan-Einsatz war über zwei Jahrzehnte quasi eine politische Selbstverständlichkeit.
Jahr für Jahr fand sich im Bundestag eine große Mehrheit aus Union, SPD, Grünen und FDP, die die Mandate der Bundeswehr verlängerte. Dabei war die Intervention, die nach den Anschlägen vom 11. September als Jagd auf einen Terroristen begonnen hatte, nie unumstritten: 2001 konnte Bundeskanzler Gerhard Schröder das rot-grüne Ja zur Beteiligung an der US-geführten „Operation Enduring Freedom“ nur dadurch erzwingen, dass er die Abstimmung im Bundestag mit der Vertrauensfrage verband. Vor allem seit 2006, als sich die Sicherheitslage am Hindukusch dramatisch verschlechterte, mehrten sich die kritischen Stimmen in der Bevölkerung und im Parlament. Konfliktforscher:innen analysierten die strategischen Widersprüche zwischen den Verbündeten. Doch ihre Appelle, die Mission systematisch zu evaluieren, fanden bei der Parlamentsmehrheit, in den Ministerien und an der Regierungsspitze kein Gehör.
Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan: Die Verantwortlichen haben nicht nachgesteuert
Nur mit Realitätsverweigerung lässt sich erklären, dass der Krieg nach dem Willen der Regierenden viele Jahre lang nicht Krieg genannt werden durfte; es dominierte das Narrativ der Brunnen bohrenden Soldat:innen. Wer wie die evangelische Bischöfin Margot Käßmann 2010 feststellte: „Nichts ist gut in Afghanistan“, der oder die wurde ausgelacht und beschimpft.
Die Verantwortlichen ließen viele Gelegenheiten verstreichen, das überambitionierte Ziel des Staatsaufbaus nach westlichem Muster abzugleichen mit der Realität einer archaisch strukturierten Stammesgesellschaft. Nur dann hätten sie nachsteuern können, um wenigstens die zivilen Teilerfolge – etwa bei Bildung, Gesundheit und Frauenrechten – zu stabilisieren.
Heute zeigt sich: Selbst das Ziel der Nato-Intervention, den Nährboden für einen gewalttätigen Dschihadismus auszutrocknen, wurde verfehlt. Zwar ist Al-Kaida geschwächt, aber ein IS-Ableger breitet sich in der Region aus. Es ist nicht auszuschließen, dass es Terrorgruppen gelingen wird, das Land zu einem Stützpunkt des Dschihad zu machen. Woraus neue Gefahren auch für den Westen erwachsen können.
Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan: Die Politik hat sich nicht raus getraut aus der selbst gestellten Falle
Rückblickend sieht es so aus, als habe sich die Politik aus einer Falle nicht mehr herausgetraut, die sie sich selbst gestellt hatte. Als habe die Furcht vor den Folgen eines Rückzugs sie gelähmt. So haben es die Verantwortlichen versäumt, eine verantwortungsvolle Exit-Strategie zu entwickeln, um einen sofortigen Kollaps der schwachen staatlichen Strukturen nach Ende des Einsatzes zu verhindern.
War es Selbstbetrug oder Hybris, die das Engagement am Hindukusch in einem Fiasko enden ließ? Ein Untersuchungsausschuss des Bundestags soll den chaotischen Truppenabzug aufarbeiten, bei dem Deutschland viele Ortskräfte nicht rechtzeitig in Sicherheit brachte. Das wird nicht reichen. Die Ampelkoalition hat zugesagt, von einer Enquetekommission den Afghanistan-Einsatz bilanzieren zu lassen. Dann wird nicht nur der Vorwurf fahrlässiger Schönfärberei im Raum stehen. Seit den Enthüllungen des US-Journalisten Craig Whitlock in den „Afghanistan Papers“ weiß die Welt, dass die US-Regierung und ihre Militärs Fehler und Rückschläge vertuscht und die Öffentlichkeit systematisch belogen haben.
Trifft dieser Vorwurf auch auf ihre Verbündeten zu? Hat die deutsche Politik aus Willfährigkeit gegenüber dem Bündnispartner USA jahrelang ein falsches Fortschrittsnarrativ bedient? Das wäre ungeheuerlich. Der Verdacht lässt sich nur ausräumen, wenn sich die deutsche Politik radikal ehrlich macht – gegenüber sich selbst und der Öffentlichkeit. Weil sie deren Vertrauen braucht, um legitimiert zu sein. Und weil Deutschland auch den Afghaninnen und Afghanen Aufklärung schuldet, die nun wieder unter dem Schreckensregime der Taliban leiden müssen. (Karin Dalka)