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Berechtigte Streiks: Zurückstecken ist keine Option mehr

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Von: Steffen Herrmann

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Zurückstecken ist für die Beschäftigten keine Option mehr. Die Ausstände zeigen: Diese Botschaft ist bei den Gewerkschaften angekommen. Der Leitartikel.

Frankfurt – Die Zeit der Zurückhaltung ist vorbei. Während der Corona-Pandemie haben viele Beschäftigte ihre Ansprüche heruntergeschraubt: Kurzarbeit, Nullrunden, Umstrukturierungen. Vieles war in Ordnung, was sonst für Aufruhr gesorgt hätte. Aber es ging darum, den Kopf unten zu halten und gut durch die Krise zu kommen, ohne den Job und damit die eigene Lebensgrundlage zu verlieren.

Dann kam die Inflation, und mit ihr bei vielen Menschen die Erkenntnis: Krise, das ist nichts Vorübergehendes mehr. Krise, das ist ein Dauerzustand.

Streiks bei der Bahn und Co.: Es geht nicht mehr darum, Arbeitsplätze zu sichern

Die Folgen von Pandemie, Inflation, Klimawandel werden unsere Gesellschaft verändern. Für einen kleinen, reichen Teil der Gesellschaft ist das kein Problem, für die allermeisten Menschen aber heißt das: Sie werden möglicherweise ärmer oder sind es schon. Und das bedeutet: Zurückstecken ist keine Option mehr. Die Streiks der vergangenen Wochen und Monaten zeigen: Diese Erkenntnis ist auch bei den Gewerkschaften angekommen.

Die Bahngewerkschaft EVG zum Beispiel hatte während der Pandemie noch minimale Lohnsteigerungen akzeptiert. Damals war das Ziel, Arbeitsplätze zu sichern. Nun aber ist die Lage eine völlig andere: An allen Ecken fehlt Personal, der Arbeitsmarkt ist in vielen Branchen zu einem Arbeitnehmermarkt geworden. Und die EVG steht unter Druck. Sie muss nachlegen, dafür sorgen, dass die Löhne ihrer – häufig schlecht bezahlten – Mitglieder steigen.

Gewerkschaft steht vor wachsenden Problemen

Dabei ist auch die EVG wie alle anderen Gewerkschaften mit mehreren, sich überlappenden Krisen konfrontiert, die ihren Schatten auf die laufenden Tarifkonflikte im öffentlichen Dienst und bei der Deutschen Bahn werfen. Seit Jahren verlieren die Gewerkschaften Mitglieder, und damit auch an Durchschlagskraft. In den nächsten Jahren wird sich diese Entwicklung beschleunigen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Das Ausfallen der gut organisierten Babyboomer wird Lücken reißen.

Denn gleichzeitig kommt wenig Nachwuchs nach, der noch dazu viel schlechter organisiert ist. Früher hat man erst den Ausbildungsvertrag unterzeichnet und dann die Beitrittserklärung zu einer Gewerkschaft. Aber die Jungen scheinen keine Lust mehr auf Gewerkschaften zu haben. Sie gelten vielen als altmodisch und man weiß nicht recht, was in den Gewerkschaftshäusern eigentlich passiert.

Tarifverhandlungen oftmals nicht mehr in den Händen der Gewerkschaft

Die Beschäftigten stellen heute nicht weniger Forderungen als früher. Allerdings – und das ist ein Problem für die Gewerkschaften – passiert das in immer mehr Fällen nicht mehr in Tarifverhandlungen, sondern individuell: Der oder die Angestellte verhandelt direkt mit der Personalabteilung über Arbeitszeit, Homeoffice-Regeln und Lohn.

Das klappt dort gut, wo händeringend nach qualifiziertem Personal gesucht wird. Insgesamt zahlt sich die Individualisierung aber wohl nicht aus: Tarifbeschäftigte verdienen im Schnitt elf Prozent mehr Geld und arbeiten 54 Minuten pro Woche weniger als Beschäftigte ohne Tarifvertrag, wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung jüngst ausgerechnet hat.

Gewerkschaften wollen mehr Mitsprache: Der nächste Streik kommt bestimmt

Die aktuellen Tarifverhandlungen sind für die Gewerkschaften deshalb auch eine Gelegenheit, für sich zu werben. Die Strategie von Verdi, EVG und Co.: Sie rücken die einfachen, ehrenamtlichen Mitglieder in den Mittelpunkt. Das neue Selbstverständnis: Man will eine Mitmachgewerkschaft sein, in der die ehrenamtlichen Mitglieder die Hand der hauptamtlichen Gewerkschaftsbosse führen. Mehr Macht der Basis. Einfacher macht das die Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite nicht – die Erwartungen der Mitglieder sind hoch.

Viele Züge bleiben am Freitag stehen.
Viele Züge blieben am Freitag stehen. (Symbolfoto) © IMAGO/Jan Huebner

Damit steigt die Bereitschaft, zu streiken. Trotz einer schrumpfenden und alternden Mitgliederstruktur könnte die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften mittelfristig sogar wachsen – wenn sie sich besser koordinieren und Aktionen absprechen, wie das zwischen Verdi und der EVG bereits passiert ist. Der nächste Streik kommt bestimmt.

Dabei dürfen die Gewerkschaften nicht vergessen, die Bevölkerung mitzunehmen. Tarifkonflikte werden nicht nur auf der Straße und am Verhandlungstisch geführt, auch die öffentliche Meinung spielt eine große Rolle. Der Rückhalt in der Bevölkerung wird aber schnell schwinden, wenn wieder Kitas, Kliniken und der Verkehr zeitgleich bestreikt werden. Sollte man sich deshalb Zurückhaltung verordnen, wie manche fordern? Nein, man muss erklären, wofür man kämpft.

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