Koalitionsvertrag: Eine Unterzeile mit alarmierender Reihenfolge
Die Ampel-Parteien wollen viel anpacken. Doch von einer Koalition des Fortschritts sind sie weit entfernt. Der FR-Leitartikel.
Berlin – Wenn die Regierungsparteien den Koalitionsvertrag bestätigen, könnte schon Anfang Dezember Olaf Scholz zum Kanzler gewählt werden. Zwischenzeitlich sah es so aus, dass „Ampel-Koalition 2021“ nichts bedeutet außer: Alle Farben leuchten gleichzeitig und niemand weiß mehr, was gilt.
Von dem einstigen Anspruch, die „Fortschrittskoalition“ zu bilden und das „Jahrzehnt der Modernisierung“ einzuläuten, schien nichts mehr übrig zu bleiben. Olaf Scholz trug dazu bei, dass er nichts beitrug. Angesichts explodierender Corona-Infektionen und sich füllender Krankenhäuser blieb der designierte Kanzler ebenso unsichtbar wie in den Koalitionsverhandlungen sprachlos.
Koalitionsvertrag: Geregelte Einwanderung, Legalisierung von Cannabis und viel mehr
Es könnte aber auch sein, dass gerade diese leise Art der Schlüssel einer Versöhnung einer Gesellschaft am Rande der Spaltung in sich trägt. Es ist manchmal besser, nicht zu sprechen als schlecht zu sprechen. In der hochdynamischen Situation, in der 22 Fachgruppen mit Hunderten Expertinnen und Experten um Kompromisse ringen, muss nicht jeder Zwischenstand nach außen getragen werden, um am Ende doch wieder revidiert zu werden. Herausgekommen ist eine erstaunliche Einigkeit im Gesellschaftsbild: Geregelte Einwanderung, Legalisierung von Cannabis, Wahlrecht ab 16 – das sind nur einige Themen, die unter einer Unionsführung undenkbar schienen.

Zwischenzeitlich sah es so aus, dass der gelbe Schwanz mit dem Ampel-Hund wedelte. Ja, an einem Finanzminister Christian Lindner führt kein Weg vorbei. Ein wenig überraschend ist, dass die FDP das Verkehrsministerium erhält. Der symbolische Erfolg, dass sie das Tempolimit verhindert hat, wird ergänzt durch den Anspruch, die Digitalisierung auszubauen. Und dass die Freien Demokraten die „Gesellschaft, in der niemand ausgeschlossen wird“ (Christian Lindner) vor allem mit Männern in Spitzenämtern gestalten wollen, ist nicht nur ein Widerspruch in sich, es wäre schlicht eine Blamage.
Klimaschutz: Grüne erhalten Landwirtschaftsministerium
Auch wenn die Grünen während der Verhandlungswochen über mögliche Benachteiligungen geächzt hatten: Der Koalitionsvertrag sieht substanzielle Weichenstellungen für den Klimaschutz vor. Das Wirtschaftsministerium ist künftig mit Klimaschutz kombiniert, Umweltschutz, Verbraucherschutz und das für das 1,5-Grad-Ziel entscheidende Ernährungs- und Landwirtschaftsministerium fallen den Grünen zu.
Die Ankündigung, schon bis 2045 klimaneutral zu werden, Verbrennungsmotoren und Energie aus Kohle schneller zu beenden, erhalten damit eine realistischere Umsetzungschance. Sollte Annalena Baerbock wirklich Außenministerin werden, hat sie ihren Akzent hierzu nach der Klimakonferenz in Glasgow bereits benannt. Demnach muss alle internationale Politik Klima-Außenpolitik sein. Die Grünen stehen am Ende der Verhandlungen deutlich gestärkt da, müssen aber jetzt beweisen, dass sie das Vertrauen wert sind.
SPD setzt Mindestlohn und Wohnungsoffensive durch
Am erstaunlichsten ist, wie unspektakulär die SPD ihre Wahlversprechen in passenden Ministerien abbilden will. Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten besetzen das Arbeitsministerium für die Erhöhung des Mindestlohns. Sie stellen die Spitze des neu geschnittenen Ministeriums für Bauen und Wohnen und könnten so die Wohnungsoffensive umsetzen. Wenn all dies käme, trüge die Regierungszeit der Ampel leise, aber effektiv eine klar sozialdemokratische Handschrift.
Es sei eine Koalition, die „Standpunkte des anderen verstehen kann“ (Annalena Baerbock) und der „komplementären Ergänzung“ (Christian Lindner). Das klingt alles zu schön, um wahr zu werden. Denn über all den Ankündigungen hängt ein großes Spaltschwert: Wie soll das alles ohne Steuererhöhungen finanziert werden? Wie sollen die Großprojekte des sozialen Ausgleichs und des 1,5-Grad-Ziels mit dem vereinbart werden, was die FDP für liberal hält?
Ampel-Koalition: Corona-Bonus in Milliardenhöhe für Pflegekräfte angekündigt
Die Verkündung eines Koalitionsvertrags ist noch keine Regierungszeit. Allein die Reihenfolge im Untertitel des Programms „Mehr Fortschritt wagen“ alarmiert zumindest. Zuerst „Freiheit“, dann „Gerechtigkeit“ und dann erst „Nachhaltigkeit“. Ob diese Reihung von Werten entschlossen und einend genug ist, um die Krisen des Klimawandels, in der Außenpolitik und die Herausforderungen durch Corona zu meistern, muss sich zeigen.
Offensichtlich war es aber die eskalierende Pandemie, die alle Verantwortlichen von der Abgrenzung zum Schulterschluss geführt hat. Die blockierenden Freidemokraten mit einem Wolfgang Kubicki in den Reihen haben zum Glück nicht, wie zunächst kolportiert, das Gesundheitsministerium erhalten. Die Parteispitzen kündigten zumindest einen ständigen Krisenstab, eine dauerhafte Expertenkommission und einen Bonus für Pflegekräfte in Milliardenhöhe an. Zu einer klaren Aussage zu einer auch nur teilweisen Impfpflicht konnte sich die mögliche Koalition aber nicht durchringen.
„Es geht uns nicht um eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners, sondern um große Wirkung“, verkündete Olaf Scholz. Seine Kanzlerschaft wird an diesem Anspruch gemessen werden. (Thomas Kaspar)
Einen Überblick über den Koalitionsvertrag können Sie sich auf unserer Sonderseite „Die Ampel im Check“ verschaffen. Neben der Einordnung durch die Redaktion der Frankfurter Rundschau finden Sie dort auch den Koalitionsvertrag als pdf zum Download.