Gute Vorsätze für 2022: Warum ein grüner Lifestyle zu kurz greift

Um den Klimawandel aufzuhalten braucht es mehr als gute Vorsätze und Alltagstipps. Was wirklich passieren muss, damit sich im neuen Jahr etwas ändert. Der Leitartikel.
Wenn man den Statistiken glauben darf, nimmt sich rund um Silvester jede:r Dritte in Deutschland vor, ein besserer Mensch zu werden. Damit endlich das gelingt, wovon (fast) alle träumen: weniger Stress, mehr Zeit für Familie und Freund:innen, mehr Bewegung. Zu den Top Ten der guten Vorsätze gehört auch der Wunsch, sich umwelt- und klimafreundlicher zu verhalten, weniger Fleisch, mehr Biogemüse, Bus und Bahn statt Auto und Flugzeug.
Dumm nur, dass die allermeisten der Gutwilligen binnen weniger Wochen in alte Gewohnheiten zurückfallen. Der innere Schweinehund gehört zu den Tierarten, die wir noch nicht ausgerottet haben. Wollen und Tun – das sind offenbar zwei Welten. Von „Value-action-gap“ sprechen die Fachleute, also Wert-Handlungslücke.
2022: Vorsätze und Realität klaffen oft weit auseinander
Nicht jede:r mag sich damit abfinden. Von der ungestillten Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit lebt die psychologische Ratgeber-Literatur, die allzu oft das Papier nicht wert ist, auf das sie gedruckt ist. Andererseits hilft die seriöse Gewohnheitsforschung, besser zu verstehen, nach welchen Mechanismen wir handeln. Und wie wir neue Routinen etablieren können – etwa durch die ständige Wiederholung, wenn nicht gar Ritualisierung erwünschter Verhaltensweisen. Bis sie selbstverständlich werden und keiner Willensanstrengung mehr bedürfen.
Gute Alltagstipps sind aber bestenfalls die halbe Miete, wenn es darum geht, zu einem nachhaltigen Lebensstil zu finden, der nicht nur das eigene Gewissen beruhigt. Denn für den bedrohten Planeten gibt es keine Rettung, wenn wir zwar mehr im Bioladen einkaufen und öfter das Auto stehen lassen, aber die Strukturen so bleiben, wie sie sind. Klimafeindliche Strukturen, in denen wir dann auch klimafeindlich produzieren, konsumieren, leben.
Gute Vorsätze für das neue Jahr - So einfach darf es sich die Politik nicht machen
Verhältnisse ändern Verhalten: Das ist ein Schlüsselsatz im Konzept der „Ökoroutine“, entwickelt von dem Politikwissenschaftler Michael Kopatz vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, mit der sich die Lücke zwischen Wollen und Tun schließen lässt. Dieses Konzept für ein konsequentes Umsteuern – ob im Energiesektor, bei der Agrarproduktion oder im Verkehr – bringt individuelle, unternehmerische und staatliche Verantwortung zusammen. Aber diesem Ansatz haben sich die politisch Verantwortlichen bislang konsequent verweigert. So tat sich die Vorgängerregierung der Ampel dadurch hervor, dass sie den Fokus auf das individuelle Konsumverhalten lenkte: Die Verbraucher:innen hätten es durch ihre Kaufentscheidungen doch selbst in der Hand, ob „Bio“ zum Standard werde, hieß es. So einfach darf es sich Politik nicht machen.
Die Fridays for Future haben den Finger in diese Wunde gelegt – und mussten sich anhören, sie seien selbst keine untadeligen Ökos. Dieser Vorwurf ist infam. Denn darin steckt die Forderung nach grüner Selbstoptimierung, welche Staat und Konzerne aus der Pflicht nimmt und den Klimaschutz vollends privatisiert. Nach dem neoliberalen Motto: Wenn nur alle das Maximum aus sich herausholen, stellen sich individueller Erfolg und gesamtgesellschaftlicher Fortschritt schon irgendwie ein.
Nein, tun sie nicht. Der Wunsch, das perfekte grüne Ich zu werden, kann sogar zu einer Obsession werden. Dafür geistert seit einigen Jahren ein Begriff durchs Netz, der wie eine medizinische Diagnose klingt: „Ökorexie“. Verwendet für Menschen, die fast krankhaft daran verzweifeln, dass sie Anspruch und Wirklichkeit nicht miteinander in Einklang bringen. Wenn schon Konsum, dann wenigstens bio, immer regional, fair, vegan und natürlich unverpackt – dieser Stress kann einsam und unglücklich machen. Bitte nicht missverstehen: Es ist gut, dass immer mehr Menschen nachhaltiger leben wollen. Die Frage ist: Was braucht es, damit das gelingt?
Vorsätze für 2022: Ampel verspricht Jahr des Aufbruchs
2022 soll ein Jahr des Aufbruchs werden. Das verspricht die Ampel, darin liegt eine Chance. Wenn die neue Regierung die Rahmenbedingungen so ändert, dass es leichter wird, umweltfreundlich zu leben. Wenn sie den Ökolandbau so fördert und die Standards für alle Agrarbetriebe so anhebt, dass Bio das „neue Normal“ wird. Wenn sie den Fernstraßenbau stoppt und in die Schiene investiert, damit Bahnfahren automatisch attraktiver wird als Autofahren. Wenn bei Verpackungen Mehrweg grundsätzlich günstiger angeboten werden muss als Einweg …
Das bedeutet nicht, dass es am Ende nicht auch auf jede:n Einzelne:n ankäme. Deshalb sollten auf der Liste der guten Absichten politische Vorsätze nicht fehlen: Nehmen Sie die Regierung beim Wort. Bleiben Sie informiert. Reden Sie mit. Werden Sie politisch aktiv und bleiben Sie dran. Gelegenheiten, sich einzumischen, gibt es auf allen politischen Ebenen. Im Stadtteil, in Nichtregierungsorganisationen, durch Petitionen, Anfragen an Abgeordnete, in Bürgerräten. Machen Sie 2022 zu einem guten neuen Jahr!