1. Startseite
  2. Meinung
  3. Kolumnen

Wir haben es nicht „nicht gewusst“

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Maren Urner

Kommentare

Buschfeuer in Australien. Immer mehr Klimakatastrophen erschüttern die Welt.
Buschfeuer in Australien. Immer mehr Klimakatastrophen erschüttern die Welt. © Evan Collis/dpa

Klimakatastrophen waren absehbar. Es fehlt nicht an Wissen. Das Problem ist unsere strukturelle Ignoranz. Die Kolumne.

Schlafend. Allein oder nebeneinander liegend. So hat die meterhohe Welle aus Asche und Bimssteinen vor 1943 Jahren zahlreiche Einwohner:innen in Pompeji im Schlaf überrascht und unter sich begraben. Ich erinnere mich gut an meine Erkundungstour der Ausgrabungsstätte in der heißen Sommersonne Italiens. Fast entspannt wirkt der Mensch, der dort als Gussfigur vor mir liegt. Er hat es nicht kommen sehen, hat es nicht gewusst, hat es nicht wissen können.

Das ist jetzt anders. Es genügt ein kurzer Blick auf die Datenlage der vergangenen Wochen: Wir haben mittlerweile die sechste von neun planetaren Grenzen überschritten. Das attestiert die wissenschaftliche Bestandsaufnahme zum weltweiten Süßwasser Ende April, nachdem nur drei Monate zuvor die fünfte Grenze zur chemischen Verschmutzung inklusive Plastik überschritten war. Am 4. Mai „feierte“ Deutschland dieses Jahr den Erdüberlastungstag. Seitdem leben wir auf „Pump“ beziehungsweise auf Kosten anderer Länder und zukünftiger Generationen. Es bräuchte die Landfläche von drei Erden, wenn die Weltbevölkerung so leben würde wie die gut 83 Millionen Menschen hierzulande.

Wie sich so etwas materialisiert, zeigen parallel die dramatischen Berichte der Hitze in Indien und Pakistan. Es zeigt der fünfte Sandsturm innerhalb eines Monats im Irak, der Menschen tötet und die gesamte Infrastruktur bedroht. Es zeigt die Regenmenge von 201 Litern pro Quadratmeter, die innerhalb eines Tages im spanischen Valencia niedergeht und damit einen neuen Rekord seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1871 markiert.

Dieser keineswegs vollständige Blick auf die vergangenen Wochen zeigt, dass wir es alle wissen (können). Wir können sehen, was der aktuelle Bericht des Weltklimarats auf den Punkt formuliert: „Jede weitere Verzögerung eines abgestimmten, vorausschauenden, globalen Handelns zur Anpassung und Abschwächung (der Klimakrise) wird dafür sorgen, dass wir das kurze und sich schnell schließende Zeitfenster verpassen, das für das Gewährleisten einer lebbaren und nachhaltigen Zukunft für alle bleibt.“

Apropos nicht „nicht gewusst“: Im besagten Weltklimabericht findet sich auch eine Übersicht zur Korrektheit der von Klimawissenschaftler:innen vorhergesagten Temperaturveränderungen. Sie zeigt, dass die globale Erhitzung genauso eingetroffen ist wie seit Beginn der Berechnungen 1970 vorhergesagt.

Der Grund dafür, dass die globalen Treibhausgasemissionen – trotz massiven Rückgangs während der Corona-Pandemie – seit dem Pariser Klimaabkommen 2015 um drei Prozent gewachsen sind, hat nichts mit fehlendem Faktenwissen, fehlender wissenschaftlicher Expertise oder fehlenden guten Prognosen zu tun. Er findet sich im menschlichen Gehirn.

Das ist eben kein Computer, der Fakten und Wissen speichert und uns dann entsprechend handeln lässt, sondern eine biologische Masse, die von Werten, Gefühlen und Emotionen dominiert ist. Ein Teil davon äußert sich angesichts der Klimakrise in struktureller Ignoranz, weil ein für „gut“ befundenes Lebensmodell mit zwei Autos, täglich Fleisch und Eigenheim tatsächlich nicht tragbar ist. Gekoppelt an politische und wirtschaftliche Belohnungsstrukturen, die kurzfristiges Denken „belohnen“, sorgt diese Ignoranz für den Status quo.

Was dagegen hilft? Eigentlich nur eins: Weiter als bis gestern Mittag zu denken. Damit wir morgen nicht daliegen, weil wir uns der eigenen Lebensgrundlage beraubt haben.

Maren Urner ist Professorin für Mediepsychologie und Neurowissenschaften.

Auch interessant

Kommentare