1. Startseite
  2. Meinung
  3. Kolumnen

Wie Demokratie sich bemisst

Erstellt:

Von: Hadija Haruna-Oelker

Kommentare

Bei einer Demonstration in Berlin im August 2022 solidarisieren sich die Teilnehmenden mit den Geflüchteten aus der Ukraine.
Bei einer Demonstration in Berlin im August 2022 solidarisieren sich die Teilnehmenden mit den Geflüchteten aus der Ukraine. © Imago/Christian Ender

Wie geht die Gesellschaft mit den Menschen um, die hier Schutz suchen? Die Kolumne.

Zu wenig Geld. Aber Geld alleine ist nicht die Lösung, wenn es um die Leben von Menschen geht, die vor Krieg oder Krisen flüchten oder migrieren. Ihre Geschichten hinter den Zahlen erzählen von einer alten Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der Welt. Darum wird Europa auch in Zukunft ihr Ziel sein, weil ein Ende nicht in Sicht ist und das wird Deutschland weiterhin verändern. Nicht zum Schlechten.

Deutschland ist eine postmigrantische Gesellschaft, weil das Land sich in einem Zustand nach und innerhalb stetiger Migration befindet. Es ist ein ständiger Prozess. Einer, der Regeln und Abläufe und damit Strukturen und Institutionen nachholend – also postmigrantisch – herausfordert. Es wäre einfacher, diese Realität anzuerkennen und politische Maßnahmen zu entwickeln, die zu mehr Durchlässigkeit und sozialen Aufstiegen führt. Die Aufnahme der Ukrainer:innen ging in genau diese Richtung. Sie war inklusiver.

Massenzustromrichtlinie. Was alles möglich war. Aber jetzt ist er wieder da der Streit zwischen Bund und Ländern wegen hoher Asylzahlen und zu wenig Geld. Der Vorwurf an beide Seiten, der jeweiligen Verantwortung nicht gerecht zu werden. Argumentieren mit falschen Zahlen. Der Ruf nach mehr Grenzschutz, Abschiebungen. Es klingt wie ein altbekannter, schlechter Film. Dabei gibt es Kommunen, in denen die Aufnahme funktioniert. Weil dort Lehren aus der Zeit nach 2015 gezogen wurden. Aufenthaltstitel, Integrationskurs, Job suchen dürfen und finden wie in Düsseldorf. „Warum kann das nicht auch für Schutzsuchende aus Syrien oder Afghanistan gelten?“, fragte kürzlich die dortige Beigeordnete für Kultur und Integration Miriam Koch in einem Interview.

Jetzt gibt es also eine Milliarde Euro mehr für die Kommunen, die Digitalisierung der Ausländerbehörden und nach über einem Jahr Ukrainekrieg mit über einer Millionen geflüchteter Menschen eine Arbeitsgruppe, die sich über die Finanzierung Gedanken und Vorschläge machen soll. Es ist eine reaktive, nicht aktive Politik. Und auch wenn die Summe besser als nichts ist, ist sie verglichen mit dem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr irgendwie ein Witz. Aber anstatt jetzt Chroniken des Alarms und Scheiterns zu formulieren, wäre es bestärkender, mehr konstruktive Ansätze zu fokussieren. Weil der Laie nur wenig von den Planungen hinter den Schlagzeilen einer Überlastungs-Debatte versteht. Es braucht mehr differenzierendes Wissen über die unterschiedlichen Situationen der Kommunen. Es geht nicht nur um Unterkünfte und allgemeingültige Lösungen nutzen wenig. Deshalb war auch der so genannte Königsteiner Schlüssel für die Verteilung von geflüchteten Menschen nie wirklich hilfreich, weil die einen Kommunen mehr können und die anderen weniger.

Gefühlte Planlosigkeit spielt rechten Kräften in die Hände. Und die Solidarität sinkt, wenn die Angst vor dem eigenen Verschwinden wächst. Zumal das Thema Geflüchtete noch nie beliebt war. Es macht vielmehr die Begrenztheit des eigenen Einflusses auf das Weltgeschehen deutlich. Aber Ausblenden ist nicht, nicht mehr. Die Klimakrise und der Ukrainekrieg steigern den Druck, sich postmigrantischen Tatsachen zu stellen und die Gefahr anti-demokratischer Kräfte ernst zu nehmen. Am 29. Mai wird zum 30. Mal des Brandanschlags in Solingen gedacht. Und im 175ten Jubiläumsjahr der Paulskirche gilt es sich zu erinnern, dass die Demokratiefähigkeit eines Landes sich darin bemisst, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht. Politisch muss entschieden werden, ob Deutschland eine Asyl- und Migrationspolitik möchte, die die Leben von Menschen verantwortungsvoll verhandelt und verteilt. Ja, es gibt darauf mehr Fragen als Antworten, aber auf die humanen kommt es an. Auf die, die sich nicht in Überfremdungs-Szenarien hineinsteigern und das Grundrecht auf Asyl auszuhöhlen versuchen.

Hadija Haruna-Oelker ist Politikwissenschaftlerin, Autorin und Moderatorin.

Auch interessant

Kommentare