Wie Bürgerschaft Wissen schafft

Sternegucken, Vogelzählen und Mückenfang sind Projekte der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern mit wissenschaftlichem Anspruch – was steckt hinter der „Citizen Science“? Die Kolumne.
Der Duden hilft nicht, wenn man „Bürgerwissenschaft“ sucht. So ist die Frage berechtigt, ob das Wort schon Teil der deutschen Sprache geworden ist. Einmal abgesehen davon, dass es sich nicht gut gendern lässt, wobei das Verb gendern im Duden schon verzeichnet ist, wird der englische Fachausdruck weitaus häufiger gebraucht.
Aber viele Menschen werden sich auch unter „Citizen Science“ kaum etwas vorstellen können. Das Prinzip ist relativ einfach. Bürgerinnen und Bürger erfassen Daten, vor allem aus Natur und Umwelt, und melden sie an die das jeweilige Projekt koordinierende Einrichtung, etwa ein Universitätsinstitut, ein Naturkundemuseum oder einen Naturschutzverein. Ziel ist jeweils, auf breiter Basis einen Überblick über eine bestimmte Frage, ein bestimmtes Problemfeld zu bekommen. Auch in Deutschland gibt es inzwischen eine ganze Reihe solcher Vorhaben.
Sie zeigen das breite Spektrum, zu dem Privatpersonen Daten sammeln können. Bei manchen Themen ist kein Fachwissen gefragt. So können alle Daten zur Verbreitung von Plastikmüll an Fließgewässern melden. Ein gewisses Grundwissen ist dagegen nötig, wenn das Vorkommen von Singvögeln im eigenen Garten gemeldet werden soll.
Man muss die Arten wenigstens zutreffend ansprechen können. Gleiches gilt für Lurche und Kriechtiere. Komplizierter ist das Bestimmen von Schmetterlingsarten. Da kann einiges schiefgehen. Immerhin erhält die wissenschaftliche Einrichtung, bei der die Meldungen zusammenlaufen, so auch Informationen, wo noch Natur verblieben oder eben gerade nicht verblieben ist. Außerdem wird in der Gesamtschau der eingegangenen Beobachtungen die Plausibilität der Einzelmeldung erkennbar – und bestenfalls weckt eine auffällige Meldung die Neugier der Fachleute zu Nachprüfungen vor Ort.
Ist eine Tierart nicht so gut sichtbar wie eine Rotte Wildschweine in Berliner Vorgärten oder eine Familie Waschbären, hilft die Technik. Für die Identifizierung fliegender Fledermäuse ist ein Fledermausdetektor vonnöten. Das Aufnahmegerät verzeichnet die Rufe, analysiert sie und verrät die Art.
Zur Messung der Himmelshelligkeit anhand der Sichtbarkeit bestimmter Sterne bedarf es sogar modernster Elektronik, nämlich eines Smartphones mit speziellem Programm. So kann erfasst werden, wo die Nacht gerettet ist und wo künstliche Beleuchtung die Umgebung verschmutzt.
Ziel bei der Zusammenfassung der jeweiligen Beobachtungen ist es, durch öffentliche Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger Beiträge zur Wissenschaft entstehen zu lassen, etwa zur Erstellung von Verbreitungsatlanten oder um über die Jahre Veränderungen festzustellen.
„Citizen Science“-Projekte stehen unter dem Banner der Bildung, meist Umweltbildung. Denn trotz aller Risiken, welche diese Verfahren der Datensammlung beinhalten, bietet „Citizen Science“ einen attraktiven Anreiz für Privatpersonen, sich näher mit ihrer Umwelt zu beschäftigen und gleichzeitig einen Beitrag zu einem großen Ganzen leisten.
Dazu gehört auch das bundesweite Mückenkataster. Der wissenschaftliche Wert ist unbestritten. Jedoch bedarf es dazu einer gewissen Neigung, Mücken einzufangen, im Tiefkühlfach abzutöten und einzufrieren und dann per Post zu verschicken.
Manfred Niekisch ist Biologe und früherer Direktor des Frankfurter Zoos.