Wenn das Ich regiert

Viele haben sich darauf festgelegt, einfach ihr Ding zu machen. Anstelle von Anstand und Rücksicht herrscht eine Haltung des Mir-doch-egal vor. Die Kolumne.
Die Warteschlange erstreckte sich fast bis auf die Straße, und allein durch einen Anflug guter Laune versuchten wir es trotzdem – ein Restaurantbesuch auf gut Glück. In der sogenannten Systemgastronomie ist man längst dazu übergegangen, die Tische nicht einfach nach vorhergehender Onlinereservierung zu vergeben, sondern die Nahrungsaufnahme auch in eng bemessenen Zeitfenstern abzuwickeln. Das wiederum scheint zu zahlreichen Um- und Ausbuchungen zu führen. Die Digitalisierung des Platzmanagements ist offen für Überraschungen.
Nach gut zehn Minuten wurden wir belohnt. Es waren noch zwei Plätze frei, allerdings an einer Art Notsitztresen. Aufgrund anwachsender Hungergefühle willigten wir ein. Eine erhebliche Zugverspätung hatte uns überhaupt erst in das Lokal gespült.
Der Notsitz erwies sich als Fensterplatz, der uns Einblicke in das Küchengeschehen gewährte. Hektik, Routine, Geschick – wir wurden Zeugen einer Küchenorganisation, in der nicht nur Kochkunst gefragt war, sondern auch die Fähigkeit, die Nerven zu behalten.
Gut gesättigt und unterhalten verließen wir das Lokal. Es hatte vorzüglich geschmeckt und überdies waren wir mit den Phänomenen eines gesellschaftlichen Wandels konfrontiert worden, der nicht nur in der Gastronomie zu beobachten ist.
Tatsächlich führt die Notwendigkeit, für beinahe alle Alltagsverrichtungen eine Terminbestätigung auf dem Smartphone nachweisen zu können, zur Ausbildung neuer Formen der Flexibilität. Weil die Just-in-time-Belieferung zwar in allen Entwicklungsphasen dokumentiert, aber selten eingehalten wird, ist so etwas wie Nischenproduktivität gefragt. Unerwartet gehen Seitentüren auf – um hindurchgehen zu können bedarf es jedoch einer situativen Intelligenz sowie eines erheblichen Maßes an Frustrationstoleranz.
Das Leben in der postindustriellen Gesellschaft wurde lange angetrieben von der Illusion reibungslosen Gelingens. Inzwischen lässt sich einer Praxis subtiler Selbstbehauptungskämpfe beobachten, in denen nicht selten Rückgriffe auf rabiate Durchsetzungsstrategien vorgenommen werden.
Während die Idealvorstellung moderner Lebensführung immer noch von dem Gedanken geprägt ist, dass ein Rädchen ins andere greift, haben sich viele darauf festgelegt, einfach ihr Ding zu machen. Anstelle von Anstand und Rücksicht regiert eine Haltung des Mir-doch-egal.
Im Straßenverkehr tritt sie in Form eines Parkens in der zweiten Reihe in Erscheinung, was sich in den Abendstunden, wenn der Lieferverkehr weitgehend verschwunden ist, als Spielart kultureller Dominanz beobachten lässt. Das Ich regiert, und alle anderen sind dazu verdammt zuzuschauen.
In den urbanen Zentren wird ein derart demonstrativer Ausdruck von sozialer Sichtbarkeit trotz des Vorbehalts, einer diskriminierenden Lesart aufzusitzen, nicht selten männlich-migrantischen Bevölkerungsteilen zugeschrieben. Zumindest in dieser Hinsicht war die Corona-Pandemie lehrreich. In ihr nämlich wurde ein manifestes Renitenzpotenzial sichtbar, das nichts mit Herkunft zu tun hat.
Gut ein Viertel der Gesellschaft scheint den Regelbruch als legitimen Ausdruck seiner selbst zu betrachten. Gut möglich, dass die Mir-doch-egal-Haltung eine Antwort ist auf den erhöhten Druck, mit den Regimen der No-reply-E-Mails und Termin-Apps fertig zu werden.
Harry Nutt ist Autor.