Weltkulturerbe Gaststätte

Jede fünfte Kneipe hat Corona nicht überlebt. Dabei ist ein Aufenthalt in einem Lokal immer eine kleine Reise ins Ungewisse, und dort entsteht „Sozialkapital“. Die Kolumne.
Eigentlich ist ja in heutigen Zeiten so gut wie nichts mehr von Bestand. „Es gibt sie noch, die guten Dinge“, verspricht ein Versandhandel für Besserverdienende, doch das bezieht sich leider nur auf die dort angebotenen Eisenpfannen, Dufflecoats und Kernseifen. Das ist kein Vorwurf, denn jeder Mensch hat seine persönliche Liste an Sachen, die es nicht mehr gibt, die er aber vermisst.
Bei mir zum Beispiel sind das drei Artikel, bei denen die Rezeptur so verändert wurde, dass sie seither nicht mehr gut riechen oder schmecken, nämlich die Gitanes ohne Filter und das Rasierwasser von Trussardi. Außerdem etwas, dem ich erst nachtrauere, seit ich erfuhr, dass es nicht mehr hergestellt wird: die Erbswurst.
Dieses legendäre Suppenkonzentrat in einer wurstförmigen Papierrolle aß ich nie, fand ich aber immer irgendwie gut. Seit 1867 wurde es produziert – bis Dezember 2018. Die Nachfrage sei zu gering gewesen, hieß es, und seither fehlt etwas in den Regalen der Supermärkte.
Zugegeben, ein Leben ohne Erbswurst ist möglich und auch nicht sinnlos. Viel schwerer wiegt etwas anderes, das seit Jahren zu beobachten ist: das Kneipensterben. Es wird ja immer behauptet, das älteste Gewerbe der Welt sei die Prostitution. Ich wage aber zu behaupten, dass es die Gastronomie schon weit früher gab. Essen und Trinken geht auch ohne Geschlechtsverkehr – umgekehrt klappt nicht.
Deswegen wundert es mich, dass die Gaststätte als solche nicht schon längst zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Seit Menschengedenken bietet sie Schutz vor Wind und Wetter, Speis und Trank und häufig auch kleine Fluchten oder wohlige Heimeligkeit – und das in allen Teilen der Welt.
Kneipen sind wie Bahnhöfe. Sie ziehen Menschen magisch an. Sie versprechen etwas und halten es auch oft – ohne dass jemand genau wüsste, worum es sich handelt. Ein Aufenthalt in einer Gaststätte ist immer eine kleine Reise ins Ungewisse, selbst wenn man jahrzehntelang auf demselben Barhocker sitzt und dieselben Leute trifft.
Laut dem Hotel- und Gaststättenverband haben rund 20 Prozent der Schankwirtschaften in Deutschland die Corona-Krise nicht überlebt. Und das Sterben geht weiter. Woche für Woche schließen weitere Betriebe und damit auch Zulieferer wie Brauereien, Bäckereien und Metzgereien, so wie dieser Tage in Frankfurt, wo zwei Traditionsfleischereien ihr Ende verkündeten.
Die Gründe dafür sind Personalmangel und steigende Energiekosten sowie ein verändertes Konsumverhalten. Während der Pandemie gewöhnten sich viele ans Kokonsaufen, das Trinken im heimischen Geviert. Das spart einem zudem Geld und die Verlegenheit, mit anderen Menschen einen wie auch immer gearteten Sozialkontakt einzugehen – und sei es nur eine zünftige Wirtshauskeilerei, die ja auch aus der Mode gekommen ist und von vielen schmerzlich vermisst wird.
Übrigens nennen Soziologen das, was in Gaststätten entsteht, ein „Kollektivgut“, manche sprechen gar von „Sozialkapital“. Andere Fachleute wie die Karikaturisten Achim Greser und Heribert Lenz untersuchten das Phänomen „Gaststätte“ in jahrelangen empirischen Selbstversuchen. Das Ergebnis der aufwendigen Studie veröffentlichten sie auf einem von ihnen gestalteten Bierdeckel: „Saufen ist Urlaub im Kopf.“
Michael Herl ist Autor und Theatermacher.