Weg in eine angstfreie Zukunft

Je gleichberechtigter eine Gesellschaft, desto glücklicher sind die Menschen in ihr - unabhängig vom Geschlecht. Die Kolumne.
Wir hatten uns überlegt, vor dem Konzert noch einen Spaziergang zu machen. Ein Stück an der Elbe, dann Richtung St. Pauli. An diesem durchschnittlichen winterlichen Sonntagabend. Als wir rechts abbiegen, die Treppen hinauf, kommen uns ein paar Männer entgegen. Sie gehen ohne großes Aufsehen an uns vorbei. Oben angekommen stehen mehrere Männer in einer losen Gruppe auf der schlecht beleuchteten Straße. Sie reden miteinander, nicken sich zu und wir gehen auch an ihnen vorbei.
Niemand hat uns angesprochen, gestört oder gar belästigt. Und doch spüren wir beide, wie unser Herz ein wenig schneller schlägt, wie unsere Atmung sich verändert hat – wir irgendwie auf der Hut sind. Auch wenn ein Blick ausreicht, um genau diese geteilte Reaktion zu kommunizieren, platzt es an der nächsten Straßenkreuzung fast zeitgleich aus uns heraus: „Das ist eine Angst, die nur Frauen kennen – oder?“
Es ist die Angst vor männlicher Gewalt. Die Angst, die wir nicht gespürt hätten, wären die Menschen auf der Treppe und auf der Straße weiblich gewesen. Diese Angst ist da, weil ein Drittel aller Frauen weltweit mindestens einmal während ihres Lebens physische oder sexuelle Gewalt durch einen Partner oder Unbekannten erfährt. Diese Angst ist da, weil Mädchen und Frauen weltweit unterdrückt, unterprivilegiert und unfrei sind.
Dafür müssen wir nicht erst auf die aktuellen Entwicklungen in Ländern wie Afghanistan oder dem Iran schauen. Wo Männer vor keinem Mittel zurückzuschrecken scheinen, um Frauen die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu verwehren. Ein Blick in die Zeitungen, Sitzungssäle, Kommentarspalten und E-Mail-Postfächer hierzulande reicht aus, um von Hass und Hetze in Form von digitaler, verbaler und psychischer Gewalt „übermannt“ zu werden.
Bevor an dieser Stelle die große Diskussion zur Definition von Gewalt losgeht: Unser Gehirn unterscheidet kaum zwischen physischer und psychischer Gewalt. Anders formuliert: Wörter und Hände können ähnlich verletzen.
Kurz vorm Veranstaltungsort in Hamburg fragen wir uns, ob es neben der weiblichen Angst vor männlicher Gewalt auch eine rein männliche Angst gibt. Eine mögliche Antwort kommt mir am Folgetag in den Sinn, als ich die Frage verändere: Gegen wen richtet sich männliche Gewalt? Gegen Frauen, die vor allem eins infrage stellen: männliche Macht. Egal, ob politischer, partnerschaftlicher oder professionaler Natur.
Vielleicht erleben wir global also gerade vielerorts den Backlash – also Rückschlag – gegen Frauen, die sich einmischen, die laut werden, die mitreden wollen, weil sie männliche Macht(strukturen) hinterfragen und gefährden. Weil die größte männliche Angst darin besteht, Macht zu verlieren.
Wenn dem so ist, gibt es gute Nachrichten für alle. Denn sämtliche Studienergebnisse zu Lebensqualität inklusive nachhaltigem wirtschaftlichen Erfolg zeigen uns: Je gleichberechtigter eine Gesellschaft, desto gesünder und glücklicher sind die Menschen in ihr – unabhängig vom biologischen oder sozialen Geschlecht.
Die Frage ist also: Wie schaffen wir es, gemeinsam den Weg dorthin zu finden. Ohne uns in elendigen Debatten und Streitereien über feministische Außenpolitik, Quoten und Gendern zu verlieren. Vielleicht hilft die Utopie einer angstfreien oder – für den Anfang die Idee einer angstärmeren – Gesellschaft dabei. Denn Angst war schon immer ein schlechter Berater.
Maren Urner ist Professorin für Medienpsychologie und Neurowissenschaftlerin.