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Von unüberbrückbaren Gräben

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Von: Richard Meng

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21. Juni in Kassel: Documenta-Mitarbeiter bauen das letzte Stück des umstrittenen Großbanners „People‘s Justice“ des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi auf dem Friedrichsplatz ab.
21. Juni in Kassel: Documenta-Mitarbeiter bauen das letzte Stück des umstrittenen Großbanners „People‘s Justice“ des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi auf dem Friedrichsplatz ab. © Uwe Zucchi/dpa

Die Debatten über die Documenta müssen weiter geführt werden. Zu vieles ist noch unausgesprochen. Die Kolumne.

Sie ist eine ziemliche Wüstenei, die Wiese vor den prominentesten Ausstellungsorten der Kasseler Documenta. Irgendwo in der Mitte verliert sich ein Zelt, zwar Teil eines weltweiten Kunstprojekts, aber als solches doch mehr Reisekunst denn neue Idee. Und dann ist da noch der Ort, der nicht sein darf. Da stand mal als Blickfang das große indonesische Bild mit den antisemitischen Elementen. Jetzt ist da ganz einfach: nichts.

Was weit über Kassel hinaus ein Armutszeugnis ist, das noch sehr viel mehr weh tut als die Peinlichkeit des Skandals, ist die Unfähigkeit, mit diesem Nichts umzugehen, wenn erst die großen Scheinwerfer aus sind. Die überforderten Ausstellungschefs sind unfähig, die Debatte weiterzuführen, die sie ausgelöst haben. Ein provinzieller Oberbürgermeister versteht die ganze Aufregung immer noch nicht.

Die Besucherinnen und Besucher aber haben das Thema im Kopf und finden keinen Ort, an dem das Thema noch Thema sein darf. Bloß nicht aktiv ansprechen. Wer eine Führung erleidet, erlebt Abwehrhaltung pur. Auf dass nicht schon wieder irgendwelche Kritik provoziert werde.

Es ist ein Symptom für mehr als nur für Kassel-Kleckersdorf. Die dortige Sprachlosigkeit nach dem Sturm zeigt etwas über das Diskursproblem generell. Über das Einbunkern in Kontroversen im je eigenen subjektiven Korrektheitsverständnis. Die Positionen werden ausgetauscht, danach ist wieder Schweigen.

Wo, wenn nicht jetzt in Kassel, müsste nach dem berechtigten Canceln eines unakzeptablen Objekts die Auseinandersetzung dazu als permanenter Teil des Kulturereignisses angeboten und vorgelebt werden? Nicht nur zur Antisemitismusfrage im Konkreten.

Sondern als tägliches öffentliches Reden über die Kunst und ihre Grenzen, über die Gefahr des Eingebundenwerdens in problematische Weltsichten etwa, über deren kulturelle Beschränkungen neben ihren kulturellen Möglichkeiten, über die ständige Instrumentalisierung zur Verteidigung politischer Macht – aber auch bei ihrer Infragestellung.

Wann wenn nicht jetzt und in Kassel gäbe es die Chance dafür vor großem Publikum? Aber irgendwie muss die Kleinmütigkeit ansteckend sein. Gefragt danach, wieso nicht ersatzweise wenigstens die großen Medien das Kasseler Loch füllen und den Documenta-Gästen auf der öden Wiese ein Diskurspodium anbieten, bekennt ein nicht ganz einflussloser Ortsjournalist: Diese Idee ist ihm noch nicht begegnet.

Was es zu diskutieren gäbe? Etwa, wie überhaupt noch aufeinander eingegangen werden kann, wenn Identitätsfragen berührt sind, innergesellschaftliche wie internationale. Oder auch nur solche, die jemand dafür hält. An vielen Stellen ploppt diese Fragestellung auf, in der Gender- und Diversitätsdiskussion besonders gnadenlos, rund um den Ukrainekrieg aber auch.

Viele unüberbrückbar scheinende Gräben gibt es da, Abwehrverhalten aller Art. Wenn man die Kasseler Posse aus der Distanz betrachtet, hat die ursprüngliche Idee funktioniert, wenn auch mit Selbstschusseffekt. Das Hereinholen von teils abgehangenen Kulturprodukten aus kolonial unterdrückten Weltgegenden sollte wie ein bisher ignorierter Spiegel wirken, die verweigerte Auseinandersetzung erzwingen. Konfrontation für den Lernprozess, Diskurs als Weiterentwicklung: Die reale Reaktion? Jetzt, nach all der Aufregung und dem großen Schlagabtausch, gar keine mehr. Weil selbst betroffen.

Mit dieser Documenta stellt sich über den Tag hinaus die Frage, was Kunst kann und was Kunst will. Und was das Publikum von der Kunst will, von Selbstbestätigung abgesehen. Der Befund am Kunstort ist so trist wie die leere Wiese im Zentrum der Stadt.

Richard Meng ist freier Autor und Kuratoriumsvorsitzender der Karl-Gerold-Stiftung,

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