Viele Krisen, noch mehr Antworten

Die falsche Asylpolitik der EU darf nicht hinter dem Ukraine-Krieg verschwinden. Beide Probleme müssen gelöst werden. Die Kolumne.
Es gibt aktuelle und Langzeitkrisen. Letztere lassen sich gut verdrängen. Vor allem, wenn es zu viel wird wie jetzt mit dem Ukraine-Krieg und seinen Folgen und der Corona-Pandemie ohne Pause. Da ist einfach zu wenig Raum, um sich noch mit der Care-, Klima- oder Migrations-Krise zu beschäftigen. Mit den Klinik-Protesten in NRW und dem #Pflexit, also damit, dass eine wachsende Zahl Pflegekräfte nicht mehr pflegen will, weil die Zustände unerträglich sind. Kein Raum für die Klimakatastrophe, die für viele ein Luxusproblem zu sein scheint, das sich vertagen, verdrängen oder verleugnen lässt. Oder für die geflüchteten Menschen auf dem Meer und der Frage, ob Seenotrettung ein Verbrechen ist.
Nahezu unbeachtet fand deshalb die Vorverhandlung gegen die Besatzung des Schiffes „Iuventa“ vor einem italienischen Gericht statt. Vier der 21 Angeklagten, deren Schiff seit 2017 in einem sizilianischen Hafen liegt, stammen aus Deutschland. Wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung droht ihnen ein Strafprozess, hohe Geldstrafen und bis zu 20 Jahren Haft. Selbst den italienischen Medien war das Thema nur eine Randnotiz wert. Ebenso der Start der Verhandlung wegen übler Nachrede gegen den rechtspopulistischen Politiker Matteo Salvini, der 2019 die Kapitänin Carola Rackete unter anderem als Komplizin von Schleppern und deutsche Zecke bezeichnete.
Das Thema Seenotrettung bleibt ein Problem, solange zwischen der Pflicht, ertrinkende Menschen zu retten und dem Verbot, Menschenhändler zu unterstützen, verhandelt wird. Wie diese Kontexte trennen, wenn ein Schlepperboot sinkt? Sollen Menschen, die im Wasser treiben, nicht gerettet werden, weil man ihnen vorwirft, sie hätten gar nicht erst ins Boot steigen sollen?
So vieles Schlimmes wurde bereits gesagt und nichts geklärt. Umso bedrückender ist, dass die Genfer Flüchtlingskonvention samt EU-Grundrechte-Charta zwar das Recht auf Asyl garantiert, aber die Grenzschutzorganisation Frontex seit Jahren an illegalen „Pushbacks“ geflüchteter Menschen beteiligt ist, um genau dieses Recht auszuhebeln.
Deshalb musste ihr Chef Fabrice Leggeri im April zurücktreten. Er hat darüber gelogen, dass griechische Grenzschützer Boote von Migrant*innen zurück ins Meer getrieben haben und Frontex zum Komplizen hatte, darunter auch Einheiten der deutschen Bundespolizei. Trotz Rücktritt besteht die Kooperation mit der griechischen Küstenwache weiter.
Zu schwierig scheint die Entscheidung für die EU, Frontex von einer der wichtigsten Außengrenzen zurückzuziehen. Wofür sollten die jährlichen Millionen von Steuern auch sonst ausgegeben werden? Sowieso ist fraglich, ob Frontex den Grenzschutz unter Achtung der Grund- und Menschenrechte überhaupt erfüllen kann, wenn die Küstenländer weiterhin alleine dastehen.
Die Debatten über Maßnahmen zur Eindämmung des Menschenhandels verhindern, dass die Kernprobleme angegangen werden. Also das, was den Menschen helfen würde, die gar nicht in Seenot geraten sollten. Erst am Donnerstag rettete die „Sea-Eye 4“ 60 Kenternde, darunter ein Baby. Dieses Dilemma lässt sich durch das Seerecht alleine nicht klären, weil es um soziale und wirtschaftliche Fragen geht. Weil die Migrationskrise komplex ist, was sich an Großbritanniens umstrittenen Plänen zeigt, Asylsuchende weiter nach Ruanda ausfliegen zu wollen. Oder daran, dass die Folgen der Klimakrise zu einer weiter steigenden Flucht führen wird, die sich jetzt schon in den betroffenen Ländern vollzieht.
Die Flucht geht weiter und auch wenn sie wenig beachtet wird, werden die Gleichzeitigkeiten sich nicht verdrängen lassen. Krisenstatus hin oder her.
Hadija Haruna-Oelker arbeitet als Autorin, Redakteurin und Moderatorin.