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Verzögertes Bewusstsein

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Von: Richard Meng

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Die globalen Krisen sind auch an den Tankstellen zu spüren.Foto: Hannes P. Albert/dpa.
Die globalen Krisen sind auch an den Tankstellen zu spüren. © Hannes P. Albert/dpa

Inflation, Energiekrise und unterbrochene Lieferketten: In der sogenannten Zeitenwende geraten auch ökonomische Verhältnisse ins Wanken. Die Kolumne.

Das Sein bestimme das Bewusstsein, hat mal ein schlauer Denker behauptet. Meistens stimmt der Satz, vor allem auf längere Sicht. Manchmal aber dauert es auch ein wenig, bis sich veränderte Realitäten in den Köpfen auswirken.

Wenn nicht alles täuscht, steht ein solcher verzögerter Bewusstseinsschub bevor. Und, da der oben erwähnte schlaue Mann als der Begründer des sogenannten Historischen Materialismus gilt: Es wird ein Schub in Richtung wirtschaftliche Realität werden. Mit viel bitterer Erkenntnis auch, dass in dieser sogenannten Zeitenwende nun auch die ökonomischen Verhältnisse ins Wanken kommen.

Das eine Stichwort dafür lautet Inflation. Die Zentralbanken haben da sehr lange sehr bewusst weggesehen und behauptet, der Preisanstieg sei nur vorübergehend. Das wäre er auch ohne Ukrainekrieg nicht gewesen. Doch jetzt fällt er umso massiver aus: Schrittweise deutliche Zinserhöhungen sind absehbar, auch für die verschuldeten Staatshaushalte wird das dramatisch. Der private und öffentliche finanzielle Spielraum wird schwinden, die Verteilungskonflikte werden zurückkehren, das Armutsrisiko wird für viele steigen.

Das zweite Stichwort lautet Energiekosten. Sie werden weit deutlicher wachsen als die Durchschnittsinflation. Auch das wäre im Zuge einer ernsthaft angegangenen Energiewende so oder so passiert, aber jetzt geschieht es schon ohne sie. Die einen werden sagen: umso dringlicher, dass die Wende schnell und konsequent kommt. Bei anderen werden all die bisherigen Rechnungen nicht mehr aufgehen. Die Politik, die während der Pandemie noch so vieles mit Geld abgefedert hat, kommt in die Zwickmühle. In der Haushaltsdebatte des Parlaments war das in dieser Woche schon sehr spürbar.

Es gibt noch ein drittes Stichwort: Deglobalisierung. Die weltweiten Lieferketten funktionieren nicht mehr. Zuletzt auch noch, weil die Staatsmacht in China auf eine weltfremde Corona-Politik setzt und ganze Millionenstädte lahmlegt. Da liegt plötzlich eine Verletzlichkeit offen, die undenkbar schien. In Kombination mit der notwendigen Isolierung Russlands muss in der Wirtschaft viel Komplexität zurückgeschraubt werden, manches vernünftigerweise. Auch hier: neue Kosten.

All das ahnen viele schon, aber es ist noch nicht voll im Bewusstsein – nachdem lange so selbstverständlich vom postmateriellen Zeitalter die Rede gewesen war, als wäre die alte, materiell geprägte Geschichte zu Ende. Was das heißt für offene Gesellschaften? Was es bedeutet für das, was wir als Fortschritt verstehen? In der Rückkehr des Materiellen jedenfalls steckt mehr Zeitenwende als in jeder Panzerlieferung nach Kiew. Und es sieht nicht so aus, als hätte irgendwo die Politik schon eine Strategie dafür.

Fortschritt aus Überschüssen zu finanzieren, ist vergleichsweise einfach. Was nach Jahrzehnten nun wieder bevorsteht, ist die Notwendigkeit, ihn im Gegensatz berechtigter Interessen durchzusetzen. In der Tarifpolitik beginnt das gerade schon. Und es kann in gewisser Weise sogar helfen, die Bedeutung demokratischer Institutionen wieder sichtbarer werden zu lassen. Ganz verkehrt bleibt deshalb, aus Furcht vor der Kontroverse die Veränderung der Verhältnisse längstmöglich zu ignorieren. Dann ist europaweit wieder mal die Türe weit offen für nationalistische, populistische Antworten.

Nur umgekehrt geht es, auch um das Grundvertrauen in die Demokratie möglichst wieder zu stärken. Es gibt jetzt neue Zielkonflikte, Moral alleine reicht nicht zur Bewältigung. Nötig ist ein neu wachsendes Bewusstsein dafür, das sich nicht nur am persönlichen Sein orientiert und Eigeninteressen über alles stellt. Dringend nötig. Denn an Anfeuerung in die falsche Richtung mangelt es nicht, schon jetzt.

Richard Meng ist freier Autor, Kuratoriumsvorsitzender der Karl-Gerold-Stiftung und Chefredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte.

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