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Israelis und Palästinenser im Nahen Osten: Lieber verbündet statt verfeindet

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Von: Inge Günther

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Die durch den Nahost-Konflikt gebliebene Verwüstung – doch im Moment herrscht Waffenruhe.
Die durch den Nahost-Konflikt gebliebene Verwüstung – doch im Moment herrscht Waffenruhe. © John Minchillo/dpa

Die israelisch-palästinensische Bewegung „Standing Together“ hat in den elf Tagen des Gazakriegs im Nahen Osten sehr viel Zulauf bekommen. Die Kolumne.

Wir liegen ja nicht gerne falsch in unseren journalistischen Einschätzungen. Aber was an dieser Stelle vor zwei Wochen stand, korrigiere ich geradezu erfreut. Mein Eindruck, angesichts der Eskalation in Nahost klinge der Protestslogan „Juden und Araber weigern sich Feinde zu sein“ wie aus einer anderen Welt, hat so nicht gestimmt. Real hat die israelisch-palästinensische Graswurzelbewegung „Standing Together“ in den elf Tagen des Gazakriegs enormen Zulauf verzeichnet.

Klar, die Friedensbewegten sind auf beiden Seiten nach wie vor in der Minderheit. Da soll man sich keiner Illusion hingeben. Die Hamas hat ihre Muskeln gezeigt, ohne Rücksicht auf Verluste, und Popularitätsgewinne in Ost-Jerusalem und dem Westjordanland erzielt. Und in Israel fühlt sich Benjamin Netanjahu nach dem Schlagabtausch mit den Radikalislamisten wieder als King, den seine politischen Gegner:innen nicht so leicht vom Thron stürzen können.

Naher Osten: „Ein Waffenstillstand reicht uns nicht“

Doch die durchsichtigen Eigeninteressen hinter der militärischen Konfrontation haben eben auch die „Standing Together“-Leute mobilisiert. Schon in den Tagen, als fast landesweit mit Raketenalarm zu rechnen war, gingen arabische und jüdische Israelis, die eine Lösung und keine Perpetuierung des Konflikts wollen, vielerorts gemeinsam auf die Straße. Zur zentralen Demonstration am vergangenen Samstag in Tel Aviv, zwei Tage nach Abpfiff der Angriffe, kamen unerwartet Tausende mehr als gedacht.

Ihre Botschaft: „Ein Waffenstillstand reicht uns nicht, wir wollen mehr“ – um nicht zu sagen: alles. Soziale Gleichheit, ein Ende der Besatzung, eine echte Friedenspolitik. All das propagierten die prinzipiell zweisprachigen lila Transparente der vor sechs Jahren gegründeten Bewegung. „Es ist das erste Mal, dass wir alle politischen und gesellschaftlichen Probleme verbinden“, sagte der aus Nazareth im gemischten Demo-Bus angereiste, pensionierte Gewerkschaftssekretär Soheil Diab. „Das System trennt uns, wir wollen das Gegenteil, ein Zusammenstehen von Juden und Arabern“, bekannte die 30-jährige Doron Aruch, Kampagnenmanagerin aus dem Armenviertel Schapira im Süden Tel Avivs.

Nicht nur die Hardliner sehen sich im Nahen Osten im Aufschwung

Der „Standing Together“-Hit – Sie wissen schon, die bereits zitierte Parole “…wir weigern uns Feinde zu sein“ – wurde jedenfalls so vielstimmig wie enthusiastisch skandiert. Uri Avnery, unvergessene Ikone des linken Friedenslagers, hätte es gefallen. Ohne ein israelisch-palästinensisches, jüdisch-arabisches Bündnis, so das Credo des 2018 verstorbenen Avnery, lasse sich kein Nachdruck im Sinne einer Verhandlungslösung erzeugen.

Die seit der Waffenruhe wieder eingesetzte Nahost-Pendeldiplomatie der aus Washington und europäischen Hauptstädten eingeflogenen Außenminister bewirkt für sich genommen wenig bis nichts. Ihre wohlfeilen Appelle, die Probleme grundsätzlich anzugehen, drohen eh wie Seifenblasen an den versteinerten Machtverhältnissen in Jerusalem, Ramallah und Gaza zu zerplatzen. Umso mehr ist zu hoffen, dass „Standing Together“ den längeren Atem entwickelt, um „denen da oben“ Dampf zu machen.

Die Netanjahu nahestehenden Medien ignorieren die erstaunlich dynamische Bewegung zwar geflissentlich. Und Hamas-Chef Jihia al-Sinwar tönt in Gaza, die „angebliche Koexistenz“ in Israels gemischten Städten sei „für immer kollabiert“. Diesmal könnte er sich getäuscht haben. Die Hardliner sehen sich im Aufschwung, die Gegenkräfte allerdings auch. (Inge Günther)

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