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Unbeachtete Realitäten?

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Von: Petra Kohse

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„Man will ja wirklich nicht zu denen gehören, die ständig dagegen sind“.
„Man will ja wirklich nicht zu denen gehören, die ständig dagegen sind“. © Heiko Kueverling/Imago

Worüber berichten die Medien? Was fällt unter den Tisch? Was stimmt und was ist falsch? Klar ist nur: So einfach ist das alles nicht ... Die Kolumne.

Die Autowerkstatt meines Vertrauens liegt in einer Berliner Wohn- und Geschäftsstraße. Als ich im ebenerdigen Büro neulich meine Angelegenheiten besprach, wandte sich der Werkstattchef immer wieder ab und blickte auf die Straße hinaus. Plötzlich hob er unterbrechend die Hand, griff zu seinem Telefon und rief hektisch einen Mitarbeiter an. „Schick Mike nach vorne und park den Volvo um, der weiße Yaris vor dem Fenster ist weg.“ Kurz darauf flitzte ein junger Mann vorbei und stellte sich in die neu entstandene Parklücke. „Schon jetzt kann man kaum anständig arbeiten“, klagte der Chef, als das geschafft war. „Ihr Auto reparieren lassen wollen alle. Aber Platz dafür gibt’s keinen. Und jetzt sollen hier in der Straße ja alle Parkplätze weg und stattdessen Blumentöpfe hingestellt werden! Der grüne Bezirksbürgermeister will es ‚schön‘ haben. Aber ich muss hier mein Geld verdienen!“

Tags darauf besuchte ich in Nordrhein-Westfalen ein Seminar auf einem Pferdehof. Der Kurs dauerte von früh bis abends und war weitab von Versorgungsmöglichkeiten, aber mittags gab es angekündigterweise kein Essen. „Früher haben wir immer zusammen gekocht“, bedauerte die Hofleiterin. „Aber seit Corona lässt das Veterinäramt das nicht mehr zu. Wir bräuchten eine extra Küche und geschultes Personal, das kann ich gar nicht leisten.“ Ein benachbarter Hof hätte schon zugemacht, weil die Ferienkinder nicht mehr so beköstigt werden dürften wie bisher. „Wem das hilft?“, fragte sie resigniert. „Uns jedenfalls nicht.“

„Man will ja wirklich nicht zu denen gehören, die ständig dagegen sind“, kommentierte eine Teilnehmerin aus Niedersachsen in der Pause. „Aber was ist die Alternative: sich langsam immer weiter einschränken zu lassen? Wenn es wenigstens etwas nutzen würde! Aber dass irgendwelche Maßnahmen etwas verbessern, liest man nie, stattdessen wird täglich über neue Probleme berichtet.“ Sie hätte deswegen schon die Zeitung abbestellt und höre auch keine Nachrichten mehr. „Ich will nicht schon beim Frühstückskaffee hören, dass schon wieder siebzehn Arten gestorben sind.“ Die Realität ihres eigenen Lebens hingegen käme in den Medien nicht mehr vor.

Auf dem Weg zurück nach Berlin flankierten in Brandenburg Menschen in weißen Schutzanzügen mehrere Dorfstraßen und halten Schilder in die Höhe. „Kommt jetzt der Klima-Lockdown?“ – „Wem schaden die Sanktionen gegen Russland“ und „Wann gehst du für deine Meinung auf die Straße?“.

In meiner Straße wird seit drei Jahren gebaut. Die Abwasserrohre werden ausgetauscht, das Kopfsteinpflaster Meter für Meter entfernt und wieder eingeklopft, dazwischen gibt es Pausen, in denen zwischen den bereitliegenden Rohrteilen kniehoch das Unkraut wächst. Eine Ecke weiter entsteht auf einer ehemaligen Brache ein privater Wohnblock – hochpreisig, wenn man die Infotafel studiert. Dort geht es rasch voran. Der Nachbar aus dem Haus gegenüber, der aus seiner Erdgeschosswohnung immer alles im Blick hat, befürchtet, dass die Mieten noch mehr steigen werden, wenn „die schnieken BMW-Fahrer erst hier einziehen“. Er und ich, wir haben alte Autos, für die wir jetzt Anwohnerparkscheine beantragt haben, weil der Parkraum in unserer Gegend ab 1. April bewirtschaftet wird. „Ich will auch mal etwas bewirtschaften“, sagte er bei unserem letzten Gespräch und zog an seiner Zigarette. „Wenn ich nur wüsste, was.“

Petra Kohse ist Theaterwissenschaftlerin, Kulturredakteurin, Buchautorin und Heilpraktikerin für Psychotherapie.

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