Spurwechsel, nächstes Thema

Die Debatten über den Ukrainekrieg werfen die Frage auf: Wieso ist längerfristiges Denken so unmodern? Die Kolumne.
Sie ist nicht ganz neu, die Kritik an der sprunghaften Art zu debattieren. Mal interessiert einzig und alleine Corona, dann nur die Landtagswahl in XY. Nachdem Krieg ist: Mal geht’s nur um das Kampfthema schwere Waffen aus deutschen Landen, dann wird das Wort Zögerlichkeit zum Symbol für Gut oder Böse, dann die Frage, wer, wann und mit welchen Motiven nach Kiew reist. Fortsetzung garantiert, allgemeine Erschöpftheit als chronisches Begleitgefühl des Ja-Nein-Denkens.
Hierzulande werden Tagesdebatten voller Selbstüberschätzung und mitunter Selbstzynismus geführt, aber darin geradezu lustvoll zelebriert. Und andere, die von außen etwas wollen von der deutschen Politik, wissen diese Klaviatur sehr wohl zu nutzen, man blicke nur nach Kiew. Dieser Stil der ständigen prekären Selbstbespiegelung lässt sich aber auch als eine Art Tanz der permanenten Illusionen sehen. Weil dabei zu viele immer gleich die ganze Welt retten wollen, selbst wenn dann der ganz hohe Anspruch regelmäßig scheitert. Dann halt Spurwechsel, nächstes Thema.
Längst hat die Weltenrettungspose auch in der Ukrainedebatte ihren festen Platz. Anders ist die Massivität nicht zu erklären, mit der in der Diskussion um Panzerlieferungen zuletzt alle auf alle losgingen. Dabei fällt auf, wie sehr sich auch der etablierte Journalismus inzwischen in seinen Reflexen von Sanktionen bis Panzerfragen mehr an der Tonlage in Kiew orientiert als an den erkennbaren Zweifeln im Publikum zuhause. Hauptsache konkretes Handeln, irgendein Jetzt und Sofort. Auch deshalb muss die Frage gestellt werden, wieso längerfristiges Denken generell so unmodern wurde. Das, was man früher strategisch nannte: Kalkül mit übernächsten Schritten, lange überlegt und abhängig von einem längerfristigen Ziel. Doch Zwischenschritte stehen inzwischen stets unter Taktikverdacht, Kompromisse retten die Welt immer viel zu langsam.
Dass die Chinesen sehr strategisch denken und weltweit so vorgehen, ist allgemeine Erkenntnis. Dass Wladimir Putin dagegen unberechenbar geworden sei, gehört zu den neuen Standardfloskeln, die aber nicht stimmen. Er ist leider extrem berechenbar in seinem Großmachtwahn. Russen spielen Schach: Bei letzterem, man muss es ja nicht einen Sport nennen, spielt strategisches Denken die entscheidende Rolle. Sich vorstellen zu können, was sein wird, wenn beide Seiten ein paar weitere Züge hinter sich gebracht haben. Welche Realitäten es dann geben wird, die man wird als gegeben anerkennen müssen. Ob man sie aus jetziger Sicht nun haben will oder nicht.
Gefühlspolitik bleibt Gegenwartspolitik. Wer nur in der Gegenwart denkt, wird am Ende nie viel bewegen. Wobei umgekehrt niemand nur mit der Ablehnung von Gefühlspolitik schon automatisch auf einer besseren Seite steht. Auch dieses Stück Überheblichkeit ist weit verbreitet, was zur allgemeinen strategischen Sprachlosigkeit beiträgt. Vielleicht ist ja Steuerungsverlust ein passendes Wort für manche dieser Entwicklungen. Hinsichtlich der Politik, aber auch bezogen auf die Gesellschaft insgesamt.
Guter Wille, wohin man blickt. Aber stets bald wieder die Enttäuschung, dass die Welt trotz all des eigenen Einsatzes immer noch großteils so ist und bleibt, wie sie vorher war – und auch der Krieg bittererweise nicht eindeutig ausgehen wird. Wenn es eine übergreifende Verantwortung professioneller Beobachtung und Analyse gibt: Hier wäre ihre eigentliche Aufgabe. Sich nicht ständig treiben lassen von der Tagesstimmung, bis aus emotionaler Enttäuschung wieder mal unkalkulierte Wut wird. Sich auch mal den Kopf zum Übermorgen zerbrechen. Wohl wahr: Das ist besonders schwer in Zeiten, in denen Konsens nur ist, dass niemand weiß, was morgen ist.
Richard Meng ist freier Autor, Kuratoriumsvorsitzender der Karl-Gerold-Stiftung und Chefredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte.