Sölker Marmor

Es ist nicht so einfach, einen Grabstein von einer Stadt in eine andere umzusetzen. Für eine Familie kann es aber sinnvoll sein.
Der Marmor sei grobkristallin und körnig, lese ich ehrfurchtsvoll. Das ursprünglich weiße Gestein werde durch Mineralien und Spurenelemente zu gestreiftem, geflammtem, gemasertem, geädertem und buntem Marmor. Ein Anteil von Calciumcarbonat bis zu 98 Prozent mache ihn bis zu drei Zentimeter lichtdurchscheinend und verleihe ihm seinen typischen Schimmer, heißt es weiter in dem Text, nach dessen Lektüre wir sicher sind, den Naturstein näher bestimmt zu haben, der 30 Jahre das Grab unseres Vaters markiert hat. Sölker Marmor, sagt der Steinmetz, ein besonders hochwertiger und strapazierfähiger Stein aus der Steiermark.
Wir hatten ja keine Ahnung, unsere Mutter hat nie darüber gesprochen, wie und warum sie ihn ausgewählt hat. Vermutlich schien er dem Charakter ihres Mannes, unseres Vaters, zu entsprechen. Die Friedhofsästhetik hat sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte spürbar verändert.
In viele Grabmale sind Fotos eingelassen, die Palette frommer und poetischer Zitate ist vielfältiger geworden. Und obwohl die deutschen Friedhofsverwaltungen weiterhin peinlich genau über die Abmessungen eines Grabsteins und dessen Beschriftung wachen, ist eine Individualisierung des Totengedenkens kaum zu übersehen. Die Bandbreite der Worte, eingehauen oder kunstvoll aufgesetzt, um dem Leben eines Verstorbenen nachträglich einen Sinn zu geben, ist unerschöpflich.
Die nähere Beschäftigung mit dem Grabstein unseres Vaters war durch die Einebnung der Grabstelle 30 Jahre nach seinem Tod am Ort unseres Aufwachsens ausgelöst worden. Die Zeitspanne entspricht der Verfallsdauer des Körpers. Wichtiger als religiöse Aspekte scheinen bei einer Bestattung inzwischen ökologische. Im Vergleich zur Verbrennung in einem Krematorium, für die sehr hohe Temperaturen erzeugt werden müssen, gilt die Erdbestattung als angemessen natürlicher Vorgang.
Bald nach dem Tod unserer Mutter im März 2020 hatten wir befunden, den Stein weiterzuverwenden – nicht primär aus Sparsamkeitsgründen. Vielmehr hatten wir uns damit angefreundet, die Verbindung von Mutter und Vater neu zu begründen, obwohl sie fortan 450 Kilometer voneinander entfernt begraben sein würden.
Zur Bearbeitung unserer Skrupel schlugen wir bei Walter Benjamin nach, der über das Versetzen von Grabsteinen in Goethes „Wahlverwandtschaften“ zu landschaftsplanerischen Zwecken schreibt: „Keine bündigere Lösung vom Herkommen ist denkbar, als die von den Gräbern der Ahnen vollzogene, die im Sinne nicht nur des Mythos sondern der Religion den Boden unter den Füßen der Lebenden gründen.“ Lagen wir richtig?
Der Transfer des rund 500 Kilogramm schweren Kolosses verlief nicht reibungslos. Einem Freund, der sich bereiterklärt hatte, den Transport zu übernehmen, war die Deichsel des Anhängers mit der Folge einer schwerwiegenden Verletzung gegen das Knie geschlagen. Der Vater, sagte er scherzhaft, habe wohl etwas gegen die Umsetzung gehabt.
Wuchtig und erhaben steht der kantige Block, den der Steinmetz erst auf die vom Friedhof zugelassenen Maße verkleinern musste, nun am neuen Ort, allein mit den Lebensdaten unserer Mutter versehen. Und doch, so will es uns scheinen, ist die Neuaufstellung des Sölker Marmors ein nachhaltiger Beitrag zur Stiftung des Familiensinns.
Harry Nutt ist Autor.