Slahis Opfergeschichte

Der Schriftsteller war 14 Jahre im Gefangenenlager Guantanamo, ohne dass ihm konkrete Taten angelastet werden konnten. Darf er Kurator eines Festivals werden? Die Kolumne.
In der Berichterstattung über den mauretanischen Schriftsteller Mohamedou Slahi geht es sehr viel um Mutmaßungen und subjektive Einschätzungen. Wer er ist und warum sich an seine Geschichte viele Fragen und Widersprüche knüpfen, erfährt man auf eindringliche Weise aus der Film-Dokumentation „Slahi und seine Folterer“.
Darin liefert deren Autor John Goetz die dichte Beschreibung eines Mannes, der 14 Jahre lang in dem US-Gefangenenlager Guantanamo inhaftiert war. Er galt als Verbindungsmann der Terrororganisation Al Kaida, ohne dass ihm konkrete Taten angelastet werden konnten. Gleich zu Beginn seines Films sagt Goetz über Slahi: „Ich bin auf der Reise zu jemanden, den ich für meinen Freund halte, obwohl wir uns noch nie persönlich begegnet sind.“
In der ebenso mitreißenden wie verstörenden Dokumentation fungiert die demonstrative Missachtung der journalistischen Distanz als erzählerischer Trick, den Zuschauenden in Habachtstellung zu versetzen. Aufpassen, zuhören, kritisch sein.
Über zwei Stunden lang ist man nicht nur den Suggestivkräften des Films und seiner Macher ausgesetzt, sondern auch dem Charme seines Hauptdarstellers: Mohamedou Ould Slahi, geboren 1970 in Rosso, Mauretanien. Sein Tagebuch über seine Zeit in Guantanamo von 2002 bis 2016 wurde zu einem internationalen Bestseller, nach dem Buch entstand der Film „The Mauretanian“ mit Jodie Foster und Benedict Cumberbatch.
Den Grund für seine langjährige Gefangenschaft sahen US-amerikanische Ermittlungsbehörden in dem Verdacht, Slahi sei eine Schlüsselfigur der Attentate vom 11. September 2001 in New York. Er habe die Täter rekrutiert, sind einige der Ermittler, die ihn in Guantanamo verhört haben, bis heute überzeugt.
Diese kommen in Goetz’ Film nicht nur vor, sie sprechen mit Slahi vor laufender Kamera darüber. Die Filmbilder faszinieren durch die intime Nähe, die Goetz zu Slahi ebenso aufzubauen vermag wie zum früheren Personal der US-Behörden. Einer von ihnen räumt selbstkritisch-gequält ein, dass die Verhörmethoden wohl einer Folter gleich kamen.
Ist eine derartige Leidensgeschichte und deren spätere Verarbeitung in Literatur ein hinreichender Grund, Mohamedou Slahi zum diesjährigen Kurator des African Book Festivals in Berlin zu ernennen? So hatte die „taz“ im Januar skeptisch gefragt. In der „Berliner Zeitung“ hielt Festivalleiterin Stefanie Hirsbrunner dagegen. Slahi sei kein verurteilter Straftäter, von Al Kaida habe er sich losgesagt. Zurück zur Tagesordnung also?
Es bedurfte einer Intervention der aus einer jesidischen Familie stammenden Schriftstellerin Ronya Othmann, um auf einen unverarbeiteten Rest aufmerksam zu machen. Was, zur Hölle, fragte sie in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, habe ein Berliner Literaturfestival geritten, ausgerechnet ein ehemaliges Al-Kaida-Mitglied als Kurator zu berufen? Slahis Zeit in der Terrororganisation werde als Jugendsünde abgetan wie drei Jahre Mitgliedschaft beim Fan Klub der Kelly Family.
Tatsächlich wird auch in dem akribisch recherchierten Film von John Goetz nicht nach der Rolle Slahis bei Al Kaida gefragt. Der Zuschauende hat sich mit dem Bekenntnis zu einer Lossagung zu begnügen. Zur Promotion im Kulturbetrieb genügt eine starke Opfergeschichte, vor der eine mögliche Täterschaft zusehends verblasst.
Harry Nutt ist Autor.