Schrecklich simpel

Manchmal ist die Welt einfacher, als wir denken. Das macht manchen Schrecken allerdings noch furchtbarer. Die Kolumne.
Eigentlich ist ja vieles viel einfacher als viele denken. Doch macht es das besser? Oder schlimmer?
Zunächst einmal geht es um eine Bestandsaufnahme. Erst erkennen, dann sortieren, dann bewerten. Nach diesem Schema verfahren Tatortermittler wie auch Entrümpler, Schuldnerberater und Psychotherapeuten. Es kann also so verkehrt nicht sein.
„Erst grübeln, dann dübeln“, sagt der Volksmund. Als Erstes steht nichts Geringeres an als die Vermessung der Welt. Das klingt ein wenig vermessen, doch steht es uns allen zu. Jedes Geschöpf auf diesem Erdenball darf sich anmaßen, weiter zu blicken als nur von der Wand bis zur Tapete. Außerdem ist „die Welt“ ein dehn-, schrumpf- und austauschbarer Begriff. Er reicht vom großen Ganzen bis zum kleinen Persönlichen. Denn jeder Mensch hat seine eigene kleine Welt.
Doch nun, kaum begonnen, sind wir bereits an einem Punkt, an dem die meisten scheitern – dem Erkennen. Gewiss, hier sind schon Generationen von Philosophen gescheitert. Dennoch schrieben sie Bücher darüber, hielten Vorträge, fanden sich toll und ließen sich feiern. Was also sollte uns davon abhalten, es ihnen nachzutun?
Also los mit dem Erkennen. Bereits hier sollte man unbedingt an besagte These denken, wonach vieles viel einfacher ist als viele denken. Sie kennen doch den Tipp, sich einen Menschen, der einem Furcht oder Respekt einflößt, einfach mal nackt vor Augen zu führen. Oder auf dem Klo sitzend mit der Hose in den Kniekehlen. Sowas hilft. Hätten sich mehr Menschen Hitler beim Kacken vorgestellt, wäre der Welt viel Elend erspart geblieben.
Simplifizieren hilft also. Ist aber nicht einfach. Der Tipp: Verspüren Sie noch eine Blockade beim Vereinfachen, müssen Sie die Herangehensweise vereinfachen.
Sie können zum Beispiel aus den Nahtoderfahrungen beinahe Verstorbener schöpfen. Die berichteten, im Moment des Fast-Verbleichens sich selbst und alle anderen von oben gesehen und dabei eine wohlige Befreiung verspürt zu haben. Über allem schweben und dabei erkennen, wie nichtig und klein doch vieles dessen ist, das uns täglich bedrückt. Das wäre das Positive an der Sache.
Doch hat man die Methode erlernt und ist in der Lage, die Welt naiv und unbelastet mit großen Kinderaugen zu sehen, schlägt das rasch ins Gegenteil um. Wenn man großes Schlechtes in seiner Simplizität durchschaut, erscheint es einem noch unverständlicher als zuvor. Warum hören die da in der Ukraine nicht einfach auf, sich zu beschießen? Warum lässt man einen weltumspannenden Ring greiser Kindervergewaltiger seit Jahrhunderten gewähren und zahlt ihnen sogar noch Steuern? Warum essen wir billiges Fleisch, obwohl wir täglich im Fernsehen sehen, wie es erzeugt wird? Warum ist es in Deutschland erlaubt, mit Tempo 200 über die Straße zu rasen? Warum stirbt noch immer alle 13 Sekunden ein Kind an Hunger?
Fünf Fragen, die sich schnell auftun. Fürchterlich. Doch nun? Was tun?
Weitermachen. Den inneren Schweinehund überwinden, wie es im Sport heißt. Die Welt weiter vermessen. Auch wenn’s wehtut. Klarheit für sich selbst schaffen. Den ganzen Scheiß reduzieren auf das Wesentliche, das Einfache. Und dann sorgsam sortieren und überlegen, woran kann ich etwas ändern und woran nicht. Dann anfangen. Ganz einfach.
Michael Herl ist Autor und Theatermacher.