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Russland: „Memorial“ droht das Verbot - das Schicksal der Organisation geht uns alle an

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Von: Klaus Staeck

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Der russischen Organisation, die sich mutig für die Menschenrechte einsetzt, droht das Aus. Es ist unsere Pflicht, uns einzumischen. Die Kolumne.

Frankfurt am Main - Ende Dezember könnte ein Teil von „Memorial“, einer der wichtigsten Menschenrechtsorganisationen Russlands, liquidiert werden. Wenn der oberste Gerichtshof in Moskau dem Antrag der Staatsanwaltschaft vom 11. November folgt, steht „Memorial international“ als Koordinierungsgruppe der Regionalorganisationen das Verbot bevor. Es wäre der größte Schlag, den eine willfährige, gesteuerte Justiz der russischen Zivilgesellschaft zufügen könnte.

Unter dem Vorwand, Memorial habe mehrfach gegen ein Gesetz verstoßen, das „ausländische Agenten“ dazu zwingt, alle Finanzquellen offenzulegen und sich selbst in sämtlichen Publikationen der Agententätigkeit zu bezichtigen, soll eine in mehr als 35 Jahren aufgebaute Aufklärungsarbeit über die Verbrechen des Stalinismus verhindert werden. Den Archiven mit den Dokumenten der Lebensschicksale Hunderttausender Lagerhäftlinge droht das Aus. Die Opferkarteien und Aufzeichnungen von Häftlingen, Samisdat-Publikationen und der Verlag von Memorial könnten ausgelöscht werden, wenn jetzt internationaler Protest dies nicht verhindert. Mehr als 150 000 Menschen haben bereits eine Petition unterschrieben.

Der Kreml arbeitet an der unbefleckten Geschichte der Sowjetzeit

Was die Aktivistinnen und Aktivisten von Memorial geleistet haben, um das historische Gewissen für die nächsten Generationen wachzuhalten, passt nicht zur Restauration eines positiven Stalinbildes, das seit einiger Zeit zur Staatsdoktrin zu werden scheint. Der Kreml arbeitet an der unbefleckten Geschichte der Sowjetzeit, und eine Bürgerorganisation, die sich mit der Aufarbeitung der Vergangenheit beschäftigt, die die Namen der Verschwundenen, in Lager Verschleppten, der Erschossenen wieder sichtbar machen will, stört so sehr, dass man sie kriminalisieren muss. Putin selbst hat erst in der vorigen Woche verlauten lassen, Memorial setze sich für Extremisten und Terroristen ein.

Ende Dezember könnte ein Teil von „Memorial“, einer der wichtigsten Menschenrechtsorganisationen Russlands, liquidiert werden. Ein Teilnehmer der Kundgebung gegen die drohende Auflösung der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial hält vor der russischen Botschaft ein Schild mit der Aufschrift „Wie are Memorial“ hoch. (Archivbild)
Ende Dezember könnte ein Teil von „Memorial“, einer der wichtigsten Menschenrechtsorganisationen Russlands, liquidiert werden. (Archivbild) © Monika Skolimowska/dpa

Unterstützt wird die Arbeit von Memorial unter anderem von der Soros-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung, Hilfe leisteten der UNHCR und der Europarat. Als die Menschenrechtsorganisation 2016 durch das russische Justizministerium auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt wurde, hatten viele offenbar noch nicht die Tragweite einer solchen öffentlichen Diffamierung erfasst. Schließlich war Memorial von Andrej Sacharow gegründet worden. Der einstige Dissident und Häftling Sergej Kowaljow vertrat die Organisation jahrelang als Abgeordneter in der Duma. Lew Kopelew, der Freund Heinrich Bölls, setzte sich in seinem Kölner Exil und auch – wie Kowaljow – bei Besuchen in der Berliner Akademie der Künste für die Arbeit von Memorial ein.

Der konflikt zwischen Russland un der Ukraine geht uns alle an

Mit ihren Reden in der Akademie appellierten sie im Geist der europäischen Verständigung an die gemeinsame deutsch-russische Verantwortung, die Erinnerung an die Verbrechen des Hitler- wie des Stalinregimes wachzuhalten.

„Die heilige Formel ‚Nichteinmischung in innere Angelegenheiten‘ ist heute eine verbrecherische Formel. Nichteinmischung bedeutet Mitschuld. Und wir alle, die wir sprechen und schreiben können, müssen die eigenen Politiker, die man gewählt hat, denen man Vertrauen geschenkt hat, auffordern, entsprechend zu handeln. Die Welt ist unteilbar.“ Diese Worte Lew Kopelews waren uns ein Leitspruch, als wir Kowaljow 1999 zu einem Abend über die Hintergründe und die Eskalation des Tschetschenien-Krieges in die Akademie eingeladen hatten. Denn es war kein Krieg am Ende der Welt – so wie heute jeder Konflikt, auch der drohende zwischen Russland und der Ukraine, und jedes Verbot einer Menschenrechtsorganisation uns alle angeht. (Klaus Staeck)

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