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Reflektierte Schullektüre

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Von: Hadija Haruna-Oelker

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Goethes „Faust“: Was soll in den Kanon der klassischen Schullektüre, was nicht?
Was auf die Lektürelisten kommt, will gut überlegt sein. © Nicolas Armer/dpa

Über die Literatur der Vergangenheit wird heiß diskutiert. Der Kanon der Klassiker ist nicht unveränderlich. Die Kolumne.

Ich habe „Faust“ nicht in der Schule gelesen. Meine Lehrerin im Deutsch-Leistungskurs ließ uns die Bücher aussuchen. Wir bekamen eine Auswahl vorgestellt, dann entschieden wir. Toll war das. Mich hat geprägt, was ich in der Schule gelesen habe.

Es waren die Anfänge zu verstehen, dass Lesen ein analytisch-distanziertes und ein ästhetisches Moment hat. Wie wirkt der Text auf mich? Was bewegt er in mir?

Heute weiß ich, dass gewaltfrei zu schreiben eine Herausforderung im Deutschen ist. Gerade arbeite ich darüber mit Studierenden der Germanistik am Oberlin College in den USA. Es geht um ein machtkritisches Formulieren, weil sie ein Deutsch lernen möchten, das sensibel mit anderen ist.

Deutsch sein in Deutschland. Wie sind die Zustände? Ich bin hier mit vielen Fragen dieser Art konfrontiert. Wir schreiben 33 Jahre nach dem Mauerfall, 54 Jahre nach 1968, fast 70 Jahre nach dem Anwerbeabkommen und knapp 80 Jahre nach Kriegsende.

„Was nützt der Kanon für ein diversifiziertes und dekolonisiertes Curriculum?“, lautet der übersetzte Titel des Germanistik-Professors Gabriel Cooper am Lehrstuhl. Er handelt vom Wunsch nach einer gesellschaftskritischen und inklusiven Lehre. Er ist auch Kritik an einem Kanon, der bei den Studierenden monolithische Eindrücke von „Deutschland“ und einem „Deutschtum“ hinterlasse. Für ihn werden die Zusammenhänge zwischen kulturellen Errungenschaften und historischem, menschlichen Leid in der Literatur noch zu wenig hinterfragt. Lehrende der Germanistik sollten sich verantwortlich fragen, mit welchem Ziel ein historisches Buch im Unterricht gelesen wird und ob sich dieses damit auch erreichen lässt.

Wichtig, denke ich und dabei an die schwelende Debatte in Deutschland um die Frage, ob der Roman „Tauben im Gras“ von Wolfang Koeppen als Pflichtlektüre für das Abitur 2024 in Baden-Württemberg geeignet ist. Um sie zu beantworten, muss der Rassismus darin auf diese Frage hin kontextualisiert werden. So analysiert die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Köhler im Buch ein ganzes Arsenal exotistischer und primitivistischer Stereotype der Moderne, die zeigten, wie tief rassistische Vorstellungen in den 1950er Jahren verwurzelt gewesen seien. Diese im Schulunterricht zu reflektieren, sei herausfordernd, weil die Rassismuskritik von Koeppen aus heutiger Sicht diskutiert werden müsse. Also ob das, was für damals als rassimuskritisch galt, es heute noch ist.

Es ist kompliziert. Denn ja, Rassismus in seiner Entwicklung zu verstehen, ist genau das. So will das, was auf die Lektürelisten kommt, gut überlegt sein. Und das nicht nur, weil aus vielen Klassikern eine homogene und eurozentristische Perspektive zu uns spricht, sondern auch weil von wenigen Menschen bestimmt wird, welche Werke als wichtig und wertvoll gelten. Diese Einschätzung aber ist relativ, nicht unveränderlich.

Und bitte keine Angst. Der Kanon soll nicht weg. Curricula zu diversifizieren und zu dekolonisieren hieße beispielsweise, die Werke der Trümmer- und Nachkriegszeit so auszuwählen und zu bearbeiten, dass möglichst viele mitgedacht werden. Wie wäre es mit einem machtkritischen Angebot, das Begegnungen mit alten Texten schafft, die sich mit zeitgenössischer Literatur verbinden? Ein Zusammendenken unterschiedlicher Perspektiven in Deutschland samt der Werke vergangener Zeiten, weil wir sie als Zeugnisse brauchen. Denn logisch ist, dass der Wandel unserer Gesellschaft auch die Wahrnehmung kulturellen Erbes und Erinnerns in der Literatur verändert.

Der Mut der Lehrerin Jasmin Blunt, die sich geweigert hatte, das Buch „Tauben im Gras“ im Unterricht zu behandeln, sollte daher als Einladung verstanden werden, um in Zukunft differenzierter darüber zu reflektieren, was für Werke junge Menschen bilden sollen. Binden wir sie mit ein. Was wäre das fortschrittlich, wenn sich der Bildungsbereich offener dafür zeigen würde, nachzujustieren! Und sich in einen Prozess des Verlernens begibt. Es ist höchste Zeit dafür.

Hadija Haruna-Oelker ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet als Autorin, Redakteurin und Moderatorin.

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