Pfeile im diskursiven Raum

Kunst ist eine Art Lesegerät zur Erschließung der Welt. Aber was folgt aus dem unerbittlichen Streit über die Documenta? Ist das Kunst?
Was Kunst ist, sein will und sein kann, bleibt für mich auf ewig mit einem sonnigen Tag im Juli 1977 verbunden. Der Besuch der Documenta 6 war eine Art Initiationserlebnis, das noch durch die Anreise mit dem klapprigen Opel Kadett meines Freundes Matthias gesteigert wurde. Er hatte erst wenige Tage zuvor die Führerscheinprüfung bestanden.
Am Ende der Schulzeit lockte die Freiheit der Kunst. Tatsächlich sind mir einige paradigmatische Werke der d6, wie es kennerisch heißt, in Erinnerung geblieben. Mein Kunstverständnis ist nachhaltig von diesem schönen und langen Tag geprägt.
Joseph Beuys war 1977 allgegenwärtig, und geradezu andächtig haben wir uns einen Film über Christos Projekt „Running Fence“ angesehen, der auf begeisternde Weise anschaulich machte, wie Kunst aus handwerklicher Präzision entsteht.
Christos Kletterer hatten die Aufgabe, einen knapp 40 Kilometer langen Zaun zu errichten, der durch die Berge Nordkaliforniens gezogen war und schließlich im Pazifik versank. Ein Eingriff in die Natur, der deren Schönheit auf neue Weise sichtbar macht – und nach getaner Arbeit wieder verschwindet.
Umwelt und deren Zerstörung war ein großes Thema der d6. Walter De Marias „vertikaler Kilometer“, an dem man versucht war, achtlos vorbeizulaufen, hatte sich hernach in unserer Fantasie festgesetzt. Sichtbar war ja nur ein kleines, versiegeltes Bohrloch, und wir fragten uns, ob es tatsächlich einen Kilometer in die Tiefe ragt oder der Künstler bloß so tut als ob. Die größere Frage, die De Maria stellte, handelte von Ausbeutung und Verschwendung von Ressourcen. Heute scheint es fast geboten, das Werk ganz neu als Kommentar zu Putins fossil angetriebenen Imperialismus zu interpretieren.
Kunst, so jedenfalls habe ich es mir seither zurechtgelegt, ist eine Art Lesegerät zu Erschließung der Welt. Wie schnell sich der Blick auf sie verändern kann, veranschaulichte der sogenannte Rahmenbau oder auch die „Landschaft im Dia“, die die Künstlergruppe Haus-Rucker-Co an der Ostseite des Kasseler Friedrichplatzes zur d6 errichtet hat. Der Rahmen lenkt den Blick buchstäblich auf die Zurichtung des Gegenstands, in diesem Fall die Karlsaue in Kassel.
Mit hintersinniger Finesse hat der US-amerikanische Philosoph Arthur C. Danto in seinem Buch „Die Verklärung des Gewöhnlichen“ vorgeführt, wie leicht sich der Betrachtende korrumpieren lässt.
Er beschreibt fünf Versionen ein und desselben Kunstwerks und führt dadurch vor, wie fundamental sich der Charakter eines Werks wandelt, wenn man den Kontext verschiebt, in dem es erscheint. Ein neuer Titel – und schon erzählt ein Bild eine andere Geschichte.
Der Streit um die Documenta Fifteen, der in den vergangenen Wochen die Gemüter verschiedener akademischer Lager erregt hat, ist nicht ästhetischer Natur. Es war von Antisemitismus und Rassismus die Rede, Stigmatisierung und Gegenstigmatisierung schossen wie Pfeile durch den diskursiven Raum.
Als wir mit unserem alten Kadett im Juli 1977 die Rückreise ins Ostwestfälische antraten, waren wir, so kam es mir vor, endgültig erwachsen geworden. Bin ich jetzt einfach nur alt, wenn es mir so scheint, als versperre der unerbittliche Streit um die Documenta den Zugang zur Kunst und zur Welt gleichermaßen?
Harry Nutt ist Autor.