Wo sind sie bloß, diese vielen „normalen Menschen“?

Sie selbst hört man kaum reden. Doch über sie wird viel gesprochen, obwohl sie immer weniger werden. Die Kolumne.
Die Gesellschaft wird immer diverser. Eine „typische Erwerbsbiografie“ wird immer untypischer. Die Leute kommen von überall und gehen überallhin. Die Vorstellung, dass alle, vom Ausbildungsende bis zum Renteneintritt, bei derselben Firma ihr Tagwerk verrichten, ist angesichts von 17-jährigen Start-up-Entrepreneuren, die mit ihren Apps im Jahresturnus ganze Berufszweige vernichten, bestenfalls zu einer romantischen Erinnerung geworden.
Dennoch wird die Rede von den „normalen Menschen“, auf deren Bedürfnisse man Rücksicht nehmen müsse, immer lauter – wahrscheinlich umso lauter, je weniger Normalität zur Verfügung steht. Gleich, ob es um Drag-Shows für junge Menschen oder den Klimawandel geht: stets werden die „normalen Leute“ als Argument ausgepackt.
Ich habe einmal versucht, den allgemeinen Wissensstand über die „normalen Menschen“ zusammenzufassen. Denn interessanterweise melden sich die normalen Menschen nie selbst zu Wort, sondern brauchen immer Fürsprecher:innen, die in ihrem Namen auftreten. Diese Fürsprecher:innen bezeichnen sich übrigens niemals selbst als „normale Menschen“.
Allein das würde mich schon gegen sie einnehmen. Denn wenn ein Kreis von Personen so wichtige Bedürfnisse hat und so stark berücksichtigt werden muss, dann sollten diese doch in der Lage sein, sich selbst zu artikulieren, und müssten sich nicht durch offenkundig unnormale Menschen vertreten lassen.
Doch normale Menschen sprechen nicht in der Öffentlichkeit. Normale Menschen wollen keine Gender-Sprache, sie wollen nicht mit ökologischen Fieberträumen behelligt werden, sie wollen auch keinen Veggie-Day. Normale Menschen wollen auch weiter günstig tanken. Sie wollen weiter Fleisch essen und fossile Energieträger verbrennen, idealerweise gleichzeitig.
Normale Menschen interessieren sich nicht für Politik. Normale Menschen sind aber stocksauer wegen der Entscheidungen der Politik! Normale Menschen ist die Verkehrswende nicht zu vermitteln. Nicht zu vermitteln sind ihnen auch: Transferleistungen für Geflüchtete, höhere Abgaben, niedrigere Abgaben, weniger Sanktionen, mehr Sanktionen.
Bei Durchsicht der Unterlagen stelle ich fest, dass „normalen Menschen“ praktisch nichts zu vermitteln ist, was ja auch ein bisschen seltsam ist. Schließlich bringen sich die meisten Menschen ständig Sachen bei: Streaming-Dienste, Preislisten, Anleitungen für neue Haustiere. Normale Menschen tun das aber anscheinend nicht. Ist diese Bevölkerungsgruppe eventuell gar nicht so groß, wie ihre Fürsprecher:innen immer behaupten?
Auch die Statistiken sind da ein bisschen pessimistisch: Wenn normalen Menschen kriegsbedingtes Energiesparen nicht zu vermitteln ist, wer hat denn letztes Jahr die 30 Prozent Gas eingespart? Waren das alles unnormale Menschen? Dann müssen die aber auch unnormal viel Gas gespart haben, sonst hätten wir ja nicht dieses schöne Ergebnis.
Haben wirklich ein paar „skurrile Minderheiten“ (S. Wagenknecht) so viel Gas eingespart wie ein Drittel der Bevölkerung? Froren sie, damit normale Menschen bollerwarm beheizte Wohnungen haben konnten? Dann wären normale Menschen auch noch undankbar und damit noch unsympathischer.
Mir scheint: Solange diese normalen Menschen nicht für sich selbst sprechen können, sollten ihre Anliegen erst mal hintangestellt werden.
Leo Fischer ist Autor, Stadtrat in Frankfurt (Ökolinx) und war Chefredakteur des Satiremagazins „Titanic“.