Nicht zum Wiehern

Wenn man ein Pferd von einem Stall in eine andere Unterkunft bringen muss, kann man einiges lernen. Die Kolumne.
Am vergangenen Wochenende habe ich mein Pferd migriert. (Kann man das so im Akkusativ sagen?) Dort, wo es lebte, konnte es nicht bleiben. Beziehungsweise er: Es handelt sich um ein männliches Tier.
Das Anwesen ist verkauft worden, der Hof löst sich auf, ein Teil der Herde ist schon umgezogen und die Heuqualität ließ täglich nach. Wir mussten weg. Was für ein Pferd nicht einfach ist. Nicht dass es nicht immerzu weg und weiter möchte – hurra, Steppe, ich komme! Aber eben nicht allein, sondern im Schutz der Herde. Der verbliebene Rest von dieser aber kam nicht mit.
Da die neue Heimat nur zehn Kilometer entfernt liegt, musste er immerhin nicht „verladen“ werden, wie das Angstwort vieler Pferdehalter heißt, sondern wir gingen zu Huf und Fuß. Das war schön. Erst die üblichen Wege, dann über eine Bundesstraße und neue Pfade durch Wald, Wiesen und zwei Dörfer. Das Tier war anfangs misstrauisch, dann erstaunt, schließlich erfreut, das Wandern liegt ihm, merkte man, und am neuen Ort wurde es mit Hafer empfangen und hatte eine Heuraufe für sich allein.
Zumindest einen Tag lang. Dann begann die Integration in die neue Herde. Dazu wurde er erst mit dem ranghöchsten und als er diesem ängstlich aus dem Weg ging, zusätzlich mit dem rangniedrigsten Mitglied der neuen Gemeinschaft zusammengebracht.
Das war ein kluger Schachzug der Betreiber, denn als der Neuling sah, wie der Schwächste neben den Stärksten ans Heu trat, traute er selbst sich bald auch dort hin.
Das Interessante an Pferdegemeinschaften ist ja, dass jeder zwar immer eifrig wissen will, welchen Rang er bekleidet, aber eigentlich niemand scharf darauf ist, die höchste Position einzunehmen. All den teuren Dominanz-Workshops für Manager zum Trotz wollen Pferde vor allem ihre Ruhe haben. Die aber erlangen sie als Beutetiere nur, wenn der wirklich Beste unter den Anwesenden die Führung übernimmt, und um den herauszufiltern, geben sie selbst im Zweifel alles.
Die Pferdehofbetreiberin, Verhaltensforscherin und Schriftstellerin Gertrud Pysall beschreibt in ihren Büchern (zuletzt erschien „Das Geheimnis der Pferdesprache“) bahnbrechend, in welchen Ritualen Pferde kommunizieren und welche Regeln in deren Welt gelten.
Dazu gehört, dass Rangniedrigere sich kleinere Respektlosigkeiten durchaus leisten dürfen, wenn sie sich sofort entschuldigen (durch Gähnen übrigens), Ranghöhere jedoch jeden Grenzübertritt bemerken müssen und sich keine Ungerechtigkeit zuschulden kommen lassen dürfen, ohne sofort angezweifelt und umgehend weiter überprüft zu werden.
Auch der Mensch, der sein Pferd von der Koppel holt, wird von diesem danach beurteilt, ob er sich an Pferderegeln hält. Und wenn er all die kleinen Nachfragen des die Sicherheit verhandelnden Tieres missdeutet oder ignoriert, vom Anspruch auf Führung aber nicht ablässt, widersetzt sich das Pferd empört – oder resigniert, was der Mensch dann gern „Vertrauen“ nennt.
Ganz nutzlos ist der Mensch den Pferden aber nicht. Soeben schickte die Chefin des neuen Hofes ein Foto, das meinen Wallach und ein weiteres Pferd der neuen Herde zeigt, wie sie sich mit drohend angelegten Ohren fixieren – über eine frisch mit reichlich Heu gefüllte Raufe hinweg und dabei fressend. Offenbar kann auch unter Pferden die Rangfrage zuweilen etwas später geklärt werden, solange nur der Service stimmt.
Petra Kohse ist Theaterwissenschaftlerin, Buchautorin und Heilpraktikerin für Psychotherapie.