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Mit Haltung: Journalismus muss zeigen, welche Konsequenzen Entscheidungen für Menschen haben

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Von: Thomas Kaspar

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Der Thwaites-Gletscher, undatierte Aufnahme, die aus der Luft gemacht wurde.
Der Thwaites-Gletscher, undatierte Aufnahme, die aus der Luft gemacht wurde. © Jeremy Harbeck/dpa

Was FR-Chefredakteur Thomas Kaspar täglich antreibt.

Was ist der Sinn des Journalismus? Auf diese Frage geben Journalistinnen und Journalisten ihren Leserinnen und Lesern jeden Tag eine einfache Antwort: indem sie Geschichten schreiben, informieren, orientieren, unterhalten, ihren ganz eigenen Blick auf die Welt anbieten. In diesem Jahr hat sich die Frage für meine Redaktion und für mich fundamental gestellt und deswegen durchbreche ich in dieser Kolumne das übliche Schema für einige sehr persönliche Anmerkungen zu dem, was mich täglich antreibt.

Ein junger Wissenschaftler hat gerade einen Aufschrei veröffentlicht, weil der Thwaites-Gletscher in der Antarktis für immer zu verschwinden droht. Eine Eisfläche so groß wie Österreich, die Schweiz und die tschechische Republik droht zu kollabieren und den Meeresspiegel um vier Prozent anzuheben.

Was FR-Chefredakteur Thomas Kaspar bewegt

Ich könnte schreien in solchen Momenten, und ich kann schreiben nach solchen Momenten. Ein Blick ins Archiv zeigt, dass dies die Frankfurter Rundschau schon lange tut. 2014 veröffentlichten wir über genau diesen Gletscher eine Geschichte unter der Überschrift „Eisschmelze wohl nicht zu stoppen“. 2014, man könnte verzweifeln, wie wenig diese Zeilen an Erkenntnissen gebracht haben.

Genauso geht es mir, wenn ich an die Geflüchteten denke, die im vergangenen Jahr im Mittelmeer ertrunken sind. 1832 wurden offiziell gezählt, vermutlich sind es sehr viel mehr. Mutige Menschen setzen in diesem Moment viel aufs Spiel, um Flüchtende aus dem winterkalten Wasser zu bergen. Genau wie sie an der Grenze von Belarus und Polen versuchen zu retten, was zu retten ist. Wir lenken den Blick unserer Leserschaft so oft es geht an die menschlich kältesten Grenzen unserer Wohlfahrtszone.

Und doch ist das unsere Rolle. Unermüdlich informieren, in Kommentaren wachrütteln. Und dabei nie vergessen, dass nicht wir in der Wissenschaft forschen oder in der Politik entscheiden, sondern darüber berichten im Dienst unserer Leserinnen und Leser. Um dieses Interesse – das „inter esse“ – das Dazwischensein nicht zu verlieren und auszuhalten, brauche ich eine klare Haltung. Wir müssen die Sicht der Betroffenen zeigen, klarmachen, welche Konsequenzen Entscheidungen für die Menschen am Ende der Entscheidungskette haben.

Journalismus und die FR sind keine Selbstzwecke

Macht nimmt sich den öffentlichen Raum und definiert Normen. Wir als Redaktion müssen uns die Mühe machen, in den Schatten abzutauchen und aus den Perspektiven jener Menschen zu berichten, die keine Stimme haben. Gerechtigkeit entsteht im laufenden Anrennen gegen das Selbstverständliche. Der zweite Vorname jedes Menschen im aufklärerischen Journalismus ist Sisyphos.

Wir geben dafür Investigativkolleginnen und -kollegen viel Raum. Wir unterstützen dringende Recherchen, gerade wenn sie wehtun. Wir ringen um Perspektiven von außen und sehen mit den Augen unserer Korrespondentinnen und Korrespondenten ins Ausland. Dafür braucht es einen Schutzraum.

Als dieser im Fall Julian Reichelt bedroht war, hat die Redaktion an prominenter Stelle gegen den Eingriff des Verlegers in die journalistische Unabhängigkeit protestiert. Dafür ausgezeichnet zu werden, ist letztlich das falsche Signal. Diese Unabhängigkeit muss eine Selbstverständlichkeit sein, die Leserschaft muss sich darauf verlassen können.

Damit schließe ich den Kreis. Denn Journalismus und die FR sind ja keine Selbstzwecke. Unsere Wirkung entfalten wir nur gemeinsam mit unserer Leserschaft. Die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser in der Krise war großartig. Am Ende bleibt das übrig – was für eine Motivation für das kommende Jahr. Ich freue mich darauf! (Thomas Kaspar)

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