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Mein Vater und ich – 1974

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Von: Harry Nutt

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Die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist eine ganz besondere.
Die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist eine ganz besondere. © Ben Early/imago

Wahrscheinlich habe ich ihn immer falsch eingeschätzt. Mich ihm sehr ähnlich zu fühlen, geht schon lange in Ordnung mit mir. Die Kolumne.

Ich denke manchmal an meinen vor bald 30 Jahren gestorbenen Vater. Dabei taste ich mich immer wieder zurück in jene Zeit, in der er so alt war wie ich heute. Mit ein wenig Kopfrechnen komme ich dabei auf 1974. Ich war damals Schüler der Obersekunda an einem Gymnasium im ostwestfälischen Paderborn. Mein Vater war Molkereimeister, ein Beruf, der bald nach seinem Eintritt ins Rentenalter beinahe vollständig von der Bildfläche verschwand.

Molkereien sind heute chemische Großbetriebe. Für meinen Vater indes gehörte der Kontakt zu den Bauern, die nach der Qualität ihrer Milch vergütet wurden, zum alltäglichen Geschäft. Wenn diese Antibiotika einsetzten, um eine erkrankte Kuh weiter in der alltäglichen Milchabgabe zu belassen, fand er das durch die Analyse der Milchproben heraus.

Mein Vater wollte die Bauern, die ihn zu täuschen versuchten, schützen. Es sei besser für sie, so argumentierte er, die erkrankte Kuh vorübergehend aus dem Produktionskreislauf herauszunehmen. Die Ergebnisse seiner Analysen, war mein Vater überzeugt, waren nicht zu überlisten. Es gehörte zu seinem Berufsverständnis, die Bauern davon zu überzeugen, dass er ihr Partner sei, nicht ihr Kontrolleur – obwohl er genau das war: ein Milchkontrolleur. Sein Arbeitgeber war der Milchkontrollverband Münster.

Mein Vater war ein strenger Mensch, ein gläubiger Katholik, aber es gehört, so bilde ich mir ein, zu den Entstehungsvoraussetzungen meiner liberalen Grundüberzeugungen, dass er den Glauben seiner Söhne nicht Kraft seiner Autorität zu erzwingen versuchte.

Während viele Gleichaltrige von ihren Eltern dazu abkommandiert wurden, Messdiener in der Kirchengemeinde zu werden, stellte unser Vater, der dort vorübergehend dem Kirchenvorstand angehörte, uns, meinen Bruder und mich, nie vor die Frage, diese Aufgabe zu übernehmen.

Mit meiner Glaubensfähigkeit ist es heute nicht weit her. Noch immer gehöre ich der katholischen Kirche an, aber mitunter kommt es mir so vor, als halte ich diese Mitgliedschaft allein aus Respekt vor dem Glauben meiner verstorbenen Eltern aufrecht. Die Strenge meines Vaters ging einher mit einem beinahe grenzenlosen Vertrauen in das Prinzip charakterlicher Integrität. Ein Mann, ein Wort. Mein Vater hat diese Devise gelebt, wie kaum ein anderer.

Ich, der ich heute so alt bin wie er 1974, bin gegenüber anderen weitaus skeptischer. Lebenserfahrung, so vermute ich, greift nicht zuletzt die Ressource des Vertrauens an. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass ich stets großen Respekt vor meinem Vater hatte, aber manchmal wohl auch Angst.

Als der große Muhammad Ali zu seinem zweiten Kampf 1974 gegen Joe Frazier antrat, hatte ich mich mit Freunden spät nachts vor dem Fernseher versammelt. Als ich heimkam, begegnete ich meinem Vater, der gerade zur Arbeit in die Molkerei ging, und erwartete ein erzieherisches Donnerwetter gegen den Sohn, der viel zu spät nach Hause kam. Ich murmelte etwas Entschuldigendes von Boxkampf und Muhammad Ali. „Und?“, fragte mein Vater: „Wer hat gewonnen?“

Wahrscheinlich, so sage ich mir heute, habe ich ihn immer falsch eingeschätzt. Mich ihm sehr ähnlich zu fühlen, geht schon lange in Ordnung mit mir. Muhammad Ali hatte übrigens nach Punkten gewonnen.

Harry Nutt ist Autor.

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