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Kot und Theater

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Von: Harry Nutt

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Marco Goecke 2019 in der Staatsoper Hannover.
Marco Goecke 2019 in der Staatsoper Hannover. © dpa

Wenn ein Choreograf einer Kritikerin Exkremente ins Gesicht schmiert, dann nimmt er sein künstlerisches Ende vorweg. Die Kolumne.

Nach den ersten Reaktionen des Entsetzens und des Ekels, die die Attacke des Choreografen Marco Goecke gegen eine Tanzkritikerin ausgelöst hat, fällt die Rückkehr zur Tagesordnung schwer. Die Schriftstellerin Sibylle Berg probiert es versuchsweise mit Verständnis „für überragende Künstler als Ausnahmemenschen“ und schlägt eine Art Täter-Opfer-Therapie vor.

An anderer Stelle im Netz hob eine Diskussion darüber an, ob Goeckes Angriff als misogyner Akt zu werten sei oder bloß einer auf die Freiheit der Kunstkritik, was sogleich die Gegenfrage evozierte, ob er den Beutel mit den Hinterlassenschaften seines Dackels (!) wohl auch Vitali Klitschko ins Gesicht gedrückt hätte.

Zum Verständnis der Tat und ihrer Beziehung zum Unbewussten mag Sigmund Freud weiterhelfen. Eine Entlastungsstrategie könnte für den Choreografen vielleicht in der Annahme bestehen, dass die Kotattacke gar nicht als aggressiver Akt der Beschämung, sondern als Ausdruck von Anerkennung zu deuten sei.

Es gibt eine Reihe von Texten, in denen Freud die Gleichung Kot = Geld durchspielt. Da ist der Gedanke nicht abwegig, dass mit der Verwertung der Exkremente auch so etwas wie Wertschätzung verbunden sei. In seiner Arbeit „Über Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik“ aus dem Jahre 1916 führt Freud eine neue Eigenschaft und Bedeutung des kindlichen Kots in sein Werk ein. „Der Kot ist nämlich“, so Freud, „das erste Geschenk, ein Teil seines Körpers, von dem sich der Säugling nur durch Zureden der geliebten Person trennt, mit dem er ihr auch unaufgefordert seine Zärtlichkeit bezeigt, da er fremde Personen in der Regel nicht beschmutzt …“

Der Kot, den herzugeben dem Kleinkind nicht zuletzt ein Lustgefühl bereitet, ist demnach das Geschenk an die Mutter, dem es sein Leben verdankt. Es wäre, auf die Szene aus Hannover übertragen, also eine Art Gegengeschenk an die Kritikerin, trotz der scheinbaren Aversion also ein Akt inniger Verbindung oder gar Zuneigung.

So leicht aber sollte und darf man es sich mit dem Herbeizitieren Sigmund Freuds nicht machen. Das Tauschgeschäft, das er im Sinn hatte, bezog sich ausdrücklich auf den Milchkot des Kindes. Späteres Erwachsenwerden aber handelt, wie wir wissen, von schwierigen Loslösungsprozessen, in denen auch die frühen Tauschbeziehungen neu austariert werden müssen.

Für Marco Goecke ist Freud keine Hilfe, wenn man die Tatsache bedenkt, dass er Hundekot eingesetzt hat, wenngleich auch den seines mutmaßlich geliebten Dackels. In der Geldtheorie Freuds ist später gelegentlich von Verhärtungen der Ausscheidungen die Rede. Das Zurückhalten des Stuhlgangs wird dabei mit dem Thema Geiz in Verbindung gebracht, das ganze Unheil der finanzkapitalistischen Ökonomie.

Klar ist, dass Goecke sich tief in die Kotmetaphorik hineinbegeben hat, am Ende aber erschöpft sich das Freud’sche Theorem des Geschenks. Marco Goeckes künstlerischer Einsatz, das Angebot von kreativer Lust und deren Verwandlung in kulturelles Kapital ist zum Erliegen gekommen.

Er hat der Kritikerin und allen anderen nichts mehr anzubieten als die Exkremente seines Hundes. War es das, was Goecke, der auf exzentrische Weise seinen Namen tanzte, mitteilen wollte: Eine theatralische Version seines künstlerischen Tods?

Harry Nutt ist Autor.

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