1. Startseite
  2. Meinung
  3. Kolumnen

Konflikte, Krisen und Instabilität werden die Realität zwischen jetzt und 2040 dominieren

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Paul Mason

Kommentare

Die digitale Kultur untergräbt die Loyalität der Menschen gegenüber Hierarchien.
Paul Mason: „Die digitale Kultur untergräbt die Loyalität der Menschen gegenüber Hierarchien.“ © Andrea Ronchini/Imago

Die aktuellen Krisen sind nicht nur miteinander verbunden. Sie fordern grundsätzliche Antworten.

Wenn es Ihre Aufgabe wäre, die Zukunft über Jahrzehnte hinweg, die Entwicklung der Geopolitik vorherzusagen, wo würden Sie anfangen? Für britische Verantwortliche gibt es dafür eine klare Antwort: ein Dokument namens „Global Strategic Trends 6“ (GST6). Es wird vom Verteidigungsministerium herausgegeben und fasst die Arbeit von 70 Forschungsteams aus 40 Institutionen mit Alternativszenarien bis 2040 zusammen.

Die Infografiken sind deutlich und die Logik ist zwingend. Das einzige Problem ist, dass das Dokument im Jahr 2018 veröffentlicht wurde, als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj noch ein Comedy-Schauspieler war, dessen Sitcom in der Ukraine verboten war. Hoffentlich gibt es bald ein Update, denn die Autoren von GST 6 haben zwar begriffen, wie sich die Weltordnung zu ändern beginnt, aber nicht, warum.

GST 6 dreht sich um das Konzept der „Vier Zukunftswelten“. In zwei von ihnen bleiben die Staaten die stärksten Akteure auf der Weltbühne – entweder kooperieren sie durch multilaterale Organisationen wie die UN. Oder konkurrieren durch wirtschaftlichen Protektionismus und Stellvertreterkonflikte um den Status einer „Großmacht“, und die multilaterale verwandelt sich in eine multipolare Welt.

Zeitliche Begrenztheit des Kapitalismus

In den anderen Zukunftswelten ist die demokratische Macht der Staaten erodiert und in andere Hände gewandert. Entweder zu einem „Netzwerk von Akteuren“ – man denke an TikTok, Moderna und Elon Musk – oder in eine fragmentierte Realität von organisierten Verbrecherbanden, Warlords und gescheiterten Staaten.

Die Autoren von GST 6 beschreiben die Treiber für diese negativen Entwicklungen: Der technologische Wandel verlagert die Macht in die Hände von Unternehmen und sogar in die von Einzelpersonen. Die digitale Kultur untergräbt die Loyalität der Menschen gegenüber Hierarchien.

Dabei blieb immer die Hoffnung, dass die multilaterale Weltordnung überleben wird, weil nur sie mit den universellen Vorstellungen von Freiheit und Menschenrechten übereinstimmt. Leider müssen wir diese Hoffnung aufgeben. Es ist das multipolare Szenario, das sich heute entfaltet. Was wir erleben, ist etwas Größeres als Fragmentierung. Die Signale häufen sich, die auf die zeitliche Begrenztheit des Systems hinweisen, das wir Kapitalismus nennen.

Obwohl Teile der marxistischen Theorie in der modernen Welt nutzlos sind, behält Marx‘ Darstellung, wie der technologische Wandel den sozialen und geopolitischen Wandel vorantreibt, seine Vorhersagekraft. An einem Punkt, so schrieb er, gerät die wirtschaftliche Entwicklung – durch bessere Technologien und gesündere, besser ausgebildete Menschen – in Konflikt mit den bestehenden sozialen Strukturen, Gesetzen und Formen des Staates.

Marx ging davon aus, dass dies zur Abschaffung des Kapitalismus führen würde – linke Denker des 20. Jahrhunderts erkannten jedoch, dass dieser stattdessen mutieren könnte. Um zu überleben, würde das System sich auch gewaltsamen und dramatischen Veränderungen unterwerfen. Das erleben wir jetzt.

Die Krise ist nicht vorübergehend, sondern die neue Norm

Auch wenn uns das nicht gefällt: Wenn dem so ist, dann folgt der Wunsch Russlands, die Weltordnung zu zerstören, und der Wunsch Chinas, die universellen Konzepte der Menschenrechte aufzugeben, ebenso wie die Entscheidung Hunderttausender Menschen in der Sahelzone, nach Norden zu fliehen, einer eigenen Gesetzmäßigkeit. Wenn man das begriffen hat, muss man akzeptieren, dass eine friedliche, multilaterale globale Zukunft wahrscheinlich die Kehrseite einer Periode des Chaos bildet.

Die Krise ist nicht vorübergehend, sondern die neue Norm: Sie hat eine eigene langfristige Dynamik, die sich von dem System, in dem wir aufgewachsen sind, extrem unterscheidet. Kurzum, man muss sich auf die eine Welt konzentrieren, in der wir tatsächlich leben, und nicht auf vier abstrakte Möglichkeiten, die man sich 2018 ausgedacht hat. Konflikte, Krisen und Instabilität werden die Realität zwischen jetzt und 2040 dominieren. Die Tage sind vorbei, an denen sie ein berechenbares, sich selbst stabilisierendes System führen konnte.

Paul Mason ist Autor und berichtet aus London.

Auch interessant

Kommentare