Machen Sie sich frei

In unseren Köpfen buhlen Haus, Hund und das neue Smartphonemodell um neuronale Kapazitäten. Welche Lehren ziehen wir daraus? Die Kolumne.
Machen Sie sich schon mal frei. Ich bin gleich bei Ihnen.“ Je nach Fachkompetenz des medizinischen Personals bedeutet diese Aufforderung, mehr oder weniger Kleidungsstücke abzulegen, um – ganz sachlich gesprochen – den freien Blick oder Zugang zu bestimmten Körperteilen zu gewähren. Seltsam, oder? Denn immerhin erzählen wir uns gesamtgesellschaftlich doch vor allem das genaue Gegenteil: dass Freiheit darin bestünde, möglichst viel zu haben.
Die freie Wahl setze voraus, alle oder mindestens viele Optionen zu haben. Egal, ob es um die nächste Mahlzeit, die nächste Karriereentscheidung oder die nächste Liebesbeziehung geht. Wir wollen frei entscheiden, welche (Zusatz-)Stoffe wir zu uns nehmen. Wir wollen die Wahl haben, ob wir Richterin, Krankenpfleger oder Künstlerin werden. Wir wollen zwischen Millionen Singles wählen dürfen – ganz vielleicht mit Hilfe gut programmierter Algorithmen. Wir wollen es uns leisten können, denn: Schließlich haben wir uns das verdient!
So hecheln wir also im Hamsterrad des Alltags im Kleinen und dem Lebenskarussell im Großen der versprochenen Freiheit hinterher. Wir häufen Besitztümer, Titel und Errungenschaften jeglicher Art an, um uns der überall plakatierten Freiheit anzunähern und werden dabei vor allem eins: immer unfreier.
Warum? Aus mindestens drei Gründen: Weil uns Studienergebnisse aus der Psychologie und den Neurowissenschaften zum sogenannten Paradox der Auswahl lehren, dass wir glücklicher und zufriedener sind, wenn wir zwischen weniger Optionen wählen können. Um uns das bewusst zu machen, müssen wir uns nur kurz an den letzten Besuch im Supermarkt erinnern, bei dem wir vor einer Regalwand mit 42 Marmeladensorten standen und verzweifelt versuchten, die „richtige“ Wahl zu treffen.
Weil unsere naive Vorstellung, „frei“ – im Sinne von „unabhängig von anderen Einflüssen“ – entscheiden zu können, ganz schnell in eine Sackgasse führt. So zeigen uns Studienergebnisse aus den unterschiedlichsten Disziplinen am laufenden Band, dass und vor allem wie sehr beispielsweise Hormone, Umgebungsgeräusche, unsere Begleitung und die Anordnung der Marmeladen im Regal sämtliche Entscheidungen beeinflussen. Weil jede zusätzliche Verantwortung zum Beispiel in Form von Besitztümern unseren „freien“ Entscheidungsraum eingrenzt. Ganz einfach, weil alles, was wir besitzen, einen Teil unser mentalen Ressourcen beansprucht. So buhlen in unserem Kopf Haus, Hund und das neueste Smartphonemodell im Minutentakt um neuronale Kapazitäten. Wer zwei Kameras statt einer besitzt, muss sich für jedes Foto zwischen zweien entscheiden.
All das einen Schritt weitergedacht, können wir der Aufforderung im ärztlichen Behandlungsraum, uns „frei zu machen“, gar nicht nachkommen. Denn hätten wir den Anspruch, uns von sämtlichen Einflüssen „frei zu machen“, müssten und könnten wir gar keine Entscheidungen mehr treffen: Ein Nichts im Nichts kann und braucht keine Entscheidungen zu treffen.
Und nun? Sollen wir uns den Rufen nach einem unabänderbaren Schicksal hingeben und jede Verantwortung von uns geben? Nein! Was wir stattdessen benötigen ist ein Update der Freiheitsrufe und den damit verbundenen Vorstellungen. Ein Update, das näher dran ist, an dem, was wir längst über unsere Biologie und Psychologie wissen. Mein Vorschlag: Maximale Freiheit besteht darin, sich der Einflüsse der eigenen Entscheidungen möglichst neugierig bewusst zu werden. Um dann fast frei zu entscheiden, ob wir sie annehmen – oder uns von ihnen befreien wollen.
Maren Urner ist Professorin für Medienpsychologie und Neurowissenschaftlerin.