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Kernfrage Kriegsziel

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Von: Richard Meng

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Blick auf eine Kirche in Bachmut, in der Region Donetsk, durch ein Einschussloch in einem Fenster.
Blick auf eine Kirche in Bachmut, in der Region Donetsk, durch ein Einschussloch in einem Fenster. © Anatolii Stepanov/afp

Allerorten wird die Befreiung der gesamten Ukraine gefordert. Der Konformitätsdruck ist hoch. Die Kolumne.

Darf man Ziele infrage stellen, auch wenn es gerechte Ziele sind – weil nur so vielleicht Frieden sein kann, vielleicht auch nicht? Es ist ein Thema, das sich immer wieder stellte während Kriegen. Da kehrt also etwas wieder. Kaum etwas ist strittiger, aufwühlender, unaushaltbar geradezu bei persönlich-emotionaler Nähe zu den Opfern.

Nach fast einem Kriegsjahr gehört es in der Ukraine und im demokratischen Westen zu den Standardbekenntnissen, dass ohne eine Rückbefreiung des gesamten Landes kein Kampfende sein darf, weil sonst ja die Aggression erfolgreich wäre. Ohne komplette militärische Niederlage Russlands also. Die Verfechterinnen und Verfechter der Sieg-These in Politik und Medien verlangen schon lange ultimativ, die Bundesregierung müsse sich jetzt und sofort dazu bekennen.

Die Außenministerin vorneweg kommt dem gerne nach. Der Kanzler bleibt bei der Formulierung, die Ukraine dürfe nicht verlieren. Die Gegenthese lautet ja: Ein klarer militärischer Sieg über das riesige Russland ist, wenn überhaupt und theoretisch, letztlich nur in einem Nato-geführten Krieg denkbar – der würde mit einiger Wahrscheinlichkeit die nukleare Bedrohung aller Beteiligten bedeuten.

Die Hassspirale jedenfalls dreht sich. Natürlich war auch sie immer Teil von Kriegslogik. Aber in Geschichtsbüchern beschrieben und vom historischen Ausgang her gedacht wirkte das immer viel absurder als im Jetzt und Heute. Und für die beste Lösung, den Umsturz in Moskau, gibt es keinerlei Indizien. Im durchmilitarisierten Russland ohne demokratische Tradition ist keine erfolgreiche zivile Basis für einen freien, friedlichen Staat in Sicht.

Wenn an der Gegenthese etwas dran ist, auch wenn das (klugerweise – oder auch nicht) kaum jemand sagt, bedeutet es: Der Siegfrieden ist und bleibt Illusion. Letztlich wird dann aber das alte Staatsgebiet der Ukraine einstweilen geteilt bleiben, ist ein russischer Teil samt Krim für Kiew mit oder ohne Leopard-Panzer (oder, nächstes Thema: westliche Kampfjets) unbefreibar. Zumal obendrein offen bleibt, wie die jetzt dort Wohnenden frei über die Staatszugehörigkeit abstimmen werden. Womit das Sieg-Narrativ des ukrainischen Präsidenten, von dem abzugrenzen sich im Westen niemand traut, an sein Ende käme. Die Hoffnung Geflüchteter/Vertriebener gleichfalls.

Hoffentlich bricht in Kiew, wenn es so weit kommt, nach der Alles-oder-nichts-Rhetorik nicht eine Alles-umsonst-Stimmung aus, die sich gegen die demokratische Perspektive schlechthin richtet. Die dem Westen dann – die Drohung wurde ja in den Raum gestellt – erwiesene mangelnde Verlässlichkeit nachsagt. Verrats-traumata kennt man in Europa nur zu gut. Weshalb, ohne es auszusprechen, so viele erst mal einfach nur Zeit gewinnen wollen. Was innerhalb der Kriegslogik aber weitere Radikalisierung bedeutet, auch wenn die Kriegsfriedensforschung eher auf Ermüdung setzt. Und das eigentliche Kernthema, die Kriegszieldebatte, ausgegrenzt bleibt.

Es ist nie leicht, mit realistischen Szenarien zu argumentieren, solange aus der Moral des Gerechten heraus die Erwartungsstimmung vieles überdeckt. Während Menschen täglich für Freiheit kämpfen und sterben und andere für die autoritäre Hybris der Eroberer, ist der Konformitätsdruck auf allen Seiten ungeheuerlich. Beides, nie gleichzusetzen, ist Realität. Genau wie der abgrundtiefe Dissens dazu, was realistisch bedeutet.

Es ist wieder so etwas, das es historisch oft gab. Irgendwann erst kam doch der Tag der neuen Blickrichtung, nach schrecklichen weiteren Entwicklungen. Wodurch die noch vermeidbar sind? Wird Denken überhaupt irgendwann wieder hilfreich und wäre Querdenken kein verbrauchter Begriff, er würde passen. Gehasst würde sicher auch das. Mitten im Krieg.

Richard Meng ist freier Autor und Kuratoriumsvorsitzender der Karl-Gerold-Stiftung.

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