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Kein Kreuz, nirgends

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Von: Johannes Dieterich

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Die eigene Stimme abzugeben, ist ein Privileg.
Die eigene Stimme abzugeben, ist ein Privileg. © Fredrik von Erichsen/dpa

In Deutschland will ich nicht wählen, in meiner Wahlheimat Südafrika darf ich nicht. Die eigene Stimme abzugeben, ist ein Privileg, das vielen vorenthalten wird. Die Kolumne.

Wenn Sie in ein paar Tagen Ihre Kreuzchen auf den Wahlschein setzen werden, denken Sie bitte einen Moment lang an all jene, die das nicht tun können. Etwa Ihr Afrika-Korrespondent. Zwar hätte ich meine Beteiligung an dem Urnengang beantragen und sicherstellen können: Doch über die Geschicke in der fernen Heimat mitbestimmen zu können, kommt mir absurd vor. Ich lebe seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr in Deutschland, zahle dort keine Steuern und habe von der deutschen Politik so viel Ahnung wie der Papst wahrscheinlich von der deutschen Nationalelf.

Mehr Sinn würde es machen, könnte ich mein Kreuzchen hier in Südafrika setzen, wo ich lebe, aufrichtig Steuern zahle und die Kandidatinnen und Kandidaten teilweise persönlich kenne: Doch dem stehen mittelalterlich anmutende Regeln entgegen. Würde ich die südafrikanische Staatsangehörigkeit annehmen, müsste ich die deutsche „zurückgeben“: Das Interesse an einer zweiten Nationalität wird als Beleidigung oder gar als Fahnenflucht betrachtet. Wie in Deutschland ist die Staatsbürgerschaft auch in Südafrika Voraussetzung für eine Stimmabgabe: Auch das ein Relikt aus Zeiten, als das Blut noch über die Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen entschied. Nicht mal Blut und Boden. Nur Blut.

Die heutige Weltmacht USA verdankt ihre Existenz der Rebellion gegen diesen Grundsatz. „No taxation without representation“, erklärten die Bostoner Teeimporteure vor fast 250 Jahren, bevor sie die Holzkisten mit den anregenden Blättern, für die sie der britischen Kolonialmacht nun Steuern zahlen sollten, kurzerhand in den Atlantik warfen. Wir zahlen keine Abgaben für einen Staat, in dem wir politisch nicht vertreten sind, so das Argument der Aufständischen – was im Umkehrschluss bedeutet: Wer in einem Gemeinwesen Steuern zahlt, hat auch das Recht auf politische Vertretung. Dass sich der überzeugende Grundsatz selbst ein Viertelmillennium später – außer im bezeichnenden Zugeständnis bei den Kommunalwahlen – noch immer nicht durchgesetzt hat, zeigt, wie träge staatliche Bürokratien sind. Blut scheint für sie sogar noch dicker als Münzen zu sein. Wobei die Münzen ja ohnehin rollen. Fraglich ist nur, warum Steuerzahler:innen mit dem „falschen“ Pass politisches Mitspracherecht verwehrt wird.

Zugegeben: Meine über zwanzigjährige Wahlabstinenz würde wohl auch ein südafrikanischer Pass nicht beenden. Weniger, weil auch hier wie in anderen Staaten des Erdteils Urnengänge zu bloßen Farcen verkommen wären, deren Ergebnis schon lange vor dem Ereignis feststeht. Südafrikas Wähler:innen haben noch ein ganz anderes Problem: Partout nicht zu wissen, wohinter sie ihr Kreuzchen setzen sollen.

Das war vor 25 Jahren noch anders: Damals stand eine ehrenwerte, von einem politischen Heroen geführte Befreiungsbewegung zur Wahl, in ihrem Schatten eine Unzahl höchstens Partikularinteressen vertretender Parteien. Seit sich die hehre Befreiungs- als schäbige Bereicherungsbewegung herausgestellt hat, ist es mit der Auswahl in Südafrikas Wahlkabinen allerdings eng geworden. Vielleicht sollte ich froh sein, dass mir die deutschen Blutsregeln die Qual der Wahl abnehmen. Und Sie sollten am Sonntag in der Wahlkabine wenigstens einen Moment lang daran denken, wie gut Sie es haben.

Johannes Dieterich berichtet für die FR aus und über Afrika.

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