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Kampf um die EU

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Von: Richard Meng

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Menschen schwenken EU- und polnische Fahnen zur Unterstützung der polnischen EU-Mitgliedschaft.
Menschen schwenken EU- und polnische Fahnen zur Unterstützung der polnischen EU-Mitgliedschaft. © Czarek Sokolowski/dpa

Die Zeit, in der Europa überall auf dem Kontinent neu gegründet werden muss, ist – jetzt. Die Kolumne.

Stettin, 1. Mai 2004. Es ist ein sonniger, warmer Frühlingstag, an dem Polen und neun weitere osteuropäische Staaten der EU beitreten. Die Stadt wirkt leer und sonntagsschläfrig, von Feierlichkeiten nichts zu spüren. Die Straßenbahnen wenigstens sind geschmückt wie bei Volksfesten. Mit zwei kleinen Fähnchen über dem Führerhaus rattern sie durch die Straßen. Europafähnchen? Weit gefehlt. Durchweg Weiß-Rot, die polnischen Farben.

Aus Westperspektive ist das rückblickend denkwürdig. Das ziemlich wenig unabhängige polnische Verfassungsgericht hat es gerade nochmal quittiert: Für den mainstreamigen Rechtspopulismus im Land war die Zugehörigkeit zu EU-Europa vom ersten Tag an eher ein nationales Ereignis. Teil einer nationalen Befreiung geradezu, die von nun an abgesichert sein sollte durch Nato und Europäische Union.

Interessenssicherung vor allem in der riesigen Geldverteilmaschine, die EU-Europa darstellt. Gerade nicht Übergang in etwas Neues, Größeres. Im Europaparlament hat das der polnische Regierungschef diese Woche mit aller zynischen Chuzpe ausgesprochen. Es wird Zeit, diese bittere Wahrheit nicht länger zu verklären: Da, wo vorher die innereuropäische Systemgrenze verlief, gibt es bis heute eine politische Kulturgrenze. Auf ihrer östlichen Seite wird von manchen manches anders empfunden.

Nicht von allen, aber von so vielen, dass Nationalpopulisten immer wieder Erfolge feiern und gerade nicht passiert, was 2004 die große Hoffnung war: dass mit jeder nächsten Generation ein Stück jener liberalen Internationalisierung nachgeholt werden wird, die im Westen rund um 1968 stattgefunden hat. Sondern dass da eine Auseinandersetzung erst noch bevor steht, ein Meinungskampf unausweichlich wird, in dem Zuschauen nicht reicht.

In Tschechien hat sich mit der Niederlage des Populisten Babic vor einer Woche gerade gezeigt, wie offen dieser Kampf ist, wenn er denn offensiv geführt wird. In Polen und Ungarn gibt es für die nächsten Wahlen neue, keineswegs chancenlose Anläufe gegen die Populistenregime. Erst jetzt, eine Generation nach 2004, entscheidet sich wirklich die Entwicklungsrichtung. Und es gibt allen Grund, im Osten die Europäer zu unterstützen und den Antieuropäern zu widersprechen.

Was aber voraussetzt, dass man sich überhaupt interessiert dafür. Die westliche kulturelle Ignoranz, das schlichte Desinteresse, war bisher die wichtigste Überlebensgarantie für den Nationalismus im Osten. Und, apropos Ignoranz: Was sich im Süden des Kontinents in Geldfragen an reiner Interessenspolitik gegenüber Brüssel herauszubilden beginnt, ist durchaus seelenverwandt zu den Strategien der Osteuropäer. Selbst Italien hat ja schon mehrfach gezeigt, wie schnell in solcher Heimat-zuerst-Denkwelt dann rechte, antieuropäische Mehrheiten zustande kommen können.

Was das für den Kampf um Europa bedeutet? Er wird härter, der Ton brutaler. Es ist unklar, in welche Richtung es weiter geht. In je eigener Weise werden neue Egodebatten überall aufgeworfen, nicht nur im Osten. Aber die Richtungsfrage ist unvermeidbar auf den Punkt gebracht. Wer Gemeinschaft will, muss bereit sein, Autonomie abzugeben. Wer sich auf sich selbst zurückzieht, siehe Großbritannien, wird große Nachteile haben, kann die anderen aber auch nicht mehr aufhalten.

Solche Grundfragen werden wohl doch in jeder Generation neu besprochen und entschieden werden müssen. Zu denken, die Antworten seien nach 2004 automatisch klar, war eine Illusion. Also los dann: Die Zeit, in der Europa überall auf dem Kontinent neu gegründet werden muss, ist – jetzt.

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