Immer auf dem falschen Trip

Ohne das schnöde Bedürfnis nach Ankunft wäre eine Zug-Odyssee nicht weiter schlimm – wie so oft bei diesem Thema lohnt sich ein Blick in die Schweiz. Die Kolumne.
Fahrrad, Auto, Flugzeug, Bahn – viele soziale Kämpfe werden derzeit anhand des Für und Wider von Fortbewegungsarten ausgetragen. Der Versuch einer begründeten Wahl löst umgehend Einspruch, mitleidiges Kopfschütteln oder ironisch beschwiegene Überlegenheitsgesten aus. Wohin es auch geht: Man ist immer auf dem falschen Trip.
Nach dreijähriger Corona-Pause hatten wir uns für einen kurzen Paris-Aufenthalt entschieden. Einfach so, erstmals mit der Bahn. Wir fühlten uns im Einklang mit unserem ökologischen Fußabdruck, und die Fahrtzeiten schienen einigermaßen erträglich. Wohliges Dahingleiten anstatt dummes Warten aufs Einchecken, wir hätten auch schon früher darauf kommen können. Zufrieden sahen wir zu, wie die Landschaften vorbeizogen als seien sie sorgsam gestaltete Kulissen des Unterwegsseins. Wenn nur nicht das Umsteigen wäre. In Karlsruhe, so wurde uns geheißen, sollten wir einen anderen Zug in Richtung Paris nehmen. Nichts leichter als das. Nie zuvor hatten wir uns Gedanken darüber gemacht, wie nah die badische Provinz vor der Weltmetropole liegt.
Und doch war sie unerreichbar für uns, zumindest an diesem Tag. Streik. Die Heraufsetzung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre halten viele Menschen in Frankreich gerade für unangebracht, der generalstabsartig vorgetragene Ausstand sollte diesbezüglich ein deutliches Zeichen setzen. Solidarität? Warum denn nicht? Auch wenn wir akut eher damit beschäftigt waren, dass die Deutsche Bahn unlängst das Angebot widerrufen hatte, den Vorzug einer vergünstigten Bahncard bereits mit Erreichen des 60. Lebensjahres zu gewähren. Wir sahen uns vorsichtig um und wähnten uns im Altersdurchschnitt. Aber das ist es ja: Die Boomer haben bis auf Weiteres die Gnade der frühen Geburt verdorben.
Trotzdem waren wir ob unserer zarten Freude am Fahren nicht gewillt, in ein allgemeines Bahn-Bashing einzustimmen. Für die französischen Zustände konnte die freundliche Zugbegleiterin ja nichts. Wohl aber für den 200 Kilometer weiter südlich in die Irre führenden Vorschlag, es via Basel zu probieren. Um es kurz zu machen: Mit einer fürsorglichen Beratschlagung der plötzlich gestrandeten Fahrgäste war das Zugmanagement restlos überfordert. Von Basel wurden wir zurückbeordert nach Karlsruhe, ich verkneife mir weitere Ärgerkommunikation über Fahrgastrechte, Ticketbindung, Falschauskünfte etc.
Wie man es anders machen kann, lehrte uns auf unserer gut beheizten Odyssee durch Baden-Württemberg schließlich Robert. Er, Anfang 70, früher für irgendwas mit Computern zuständig, sensibilisierte uns dafür, dass das Problem womöglich in unserem schnöden Bedürfnis nach Ankunft bestehen könnte. Ähnlich wie wir, nur ganz woanders, war er früh am Morgen in Norddeutschland in einen ICE gestiegen, der ihn nach Basel SBB beförderte.
Dort angekommen, mühte er sich gar nicht erst mit den Fragen des „Wie weiter“ ab, sondern stieg geradewegs in den EC nach Interlaken ein. Genauso hatte er es geplant. Aus dem Fenster sehen, mit Bahngeschädigten wie uns ins Gespräch kommen – Robert war zufrieden mit sich, der Welt und dem Unterwegssein. Und falls ihm einmal Akteure der „Letzten Generation“ den Weg verkleben sollten, wäre es ihm wohl eine willkommene Abwechslung, aber gewiss keine Unterbrechung.
Harry Nutt ist Autor.