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Helsinki sehen - und glücklich sein

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Von: Michael Herl

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Es begann mit einer Affekthandlung. Ich entdeckte im Flugplan des Frankfurter Airports das Ziel „Helsinki“ – und saß kurz später in einer Maschine dorthin.
Es begann mit einer Affekthandlung. Ich entdeckte im Flugplan des Frankfurter Airports das Ziel „Helsinki“ – und saß kurz später in einer Maschine dorthin. © IMAGO/Roni Rekomaa

Ich stand in einer winzigen Kellerkneipe. Mein Urlaubsziel. Ich setzte mich an den Tresen und hatte das Gefühl, nie weg gewesen zu sein.

Eigentlich ist ja Glück eine recht persönliche Angelegenheit. Denn bekanntlich schmieden wir es uns doch alle selbst, also kommen dabei gewiss lauter verschiedene Ergebnisse heraus.

Manche Menschen dengeln drauflos wie wild und sehen zu, bald fertig zu werden, weil sie womöglich keine Lust mehr oder Hunger oder beides haben. Andere ziselieren, klöppeln und feilen endlos an ihrem Werkstück herum, und wenn es dann endlich fertig ist, ist es ihnen noch längst nicht fertig genug. Aber sind sie deswegen weniger glücklich? Oder verstehen sie unter Glück etwas anderes und gehen die Sache deswegen anders an? Lässt sich Glück denn überhaupt definieren?

Offensichtlich. Zumindest behaupten dies US-amerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und erstellen jedes Jahr den „World Happiness Report“. Anhand diverser Umfragen ermitteln sie ein Ranking der glücklichsten Länder der Erde und versetzen damit seit sechs Jahren viele in Verwunderung – außer Finninnen und Finnen. Denn die liegen seither souverän auf Platz eins. Der Rest der Welt hat Fragen.

Wie kann ein kleines Volk auf einem großen, fast nur aus Wäldern, Seen, Schnee und Eis bestehenden Gebiet im eisigen Norden, wo es zudem die meiste Zeit des Jahres dunkel bis halbhell ist, wie kann dieses Häuflein Menschen das glücklichste sein? Wie geht das, wo doch zu allem Überfluss auch noch bekannt ist, dass man dort zur Schwermut neigt, zur Trunksucht und zum Grübelzwang und das Land sogar eine der höchsten Suizidraten Europas aufweist?

Ich weiß es. Die Antwort liegt in einem Erlebnis vor vielen Jahren. Ich war jung, es war Februar und grau und kalt und unschön, und ich hatte ein wenig Zeit. Also beschloss ich zu verreisen. Dass mich der sonderbarste Kurzurlaub meines Lebens erwartete, konnte ich in dem Moment nicht ahnen.

Es begann mit einer Affekthandlung. Ich entdeckte im Flugplan des Frankfurter Airports das Ziel „Helsinki“ – und saß kurz später in einer Maschine dorthin. Warum vermag ich beim besten Willen nicht mehr zu sagen. Mit Vernunft kann es jedenfalls nichts zu tun gehabt haben, im Februar nach Finnland zu fahren. Vernünftig war es auch nicht.

Jedenfalls kam ich dort an, es war noch grauer, kälter und unschöner als daheim, doch etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Ein Taxi brachte mich in die Innenstadt, ich mietete mich im erstbesten Hotel ein und machte mich auf, die Gegend zu erkunden. Aber nur kurz. Sehr kurz.

Denn nach wenigen Schritten fühlte ich mich magisch von einer dunklen Stiege ins Souterrain angezogen. Ich ging hinab, öffnete eine Tür und spürte sofort gefunden zu haben, was ich gar nicht gesucht hatte. Ich stand in einer winzigen, funzelig beleuchteten Kellerkneipe. Mein Urlaubsziel.

Ich setzte mich an den Tresen und hatte schlagartig das Gefühl, nie weggewesen zu sein. An die ersten zwei, drei Bier kann ich mich noch erinnern, auch an Wodka – das war’s. Sechs Tage verbrachte ich wohl dort, wahrscheinlich unterbrochen durch kurze Schlafpausen im benachbarten Hotel, das ist aber nicht überliefert.

Ich weiß nämlich nichts mehr. Nur, dass ich eine wundervolle Zeit hatte und wundervolle Menschen traf, mit denen ich wundervoll wortkarge Gespräche führte – und dass ich glücklich war.

Michael Herl ist Autor und Theatermacher.

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