Haut im Spiel: Warum Emotionen weder gut noch schlecht sind

Politik geht nicht ohne Emotionen – sie signalisieren uns, was uns be-rührt und machen uns so handlungsfähig. Die Kolumne.
Es brodelt innerlich und die Energie scheint nicht richtig zu wissen, wo sie hin soll. Getrieben von einer ungreifbaren Kraft, gleichzeitig eine Erklärung verfolgend, die wie ein unerreichbarer Köder vor mir hereilt. Ist es Wut, Ärger oder Frustration? Ich kann es noch nicht begreifen. Also trete ich weiter fest in die Pedale. Gegen den schneidenden Wind.
In meinem Kopf jongliere ich die Nachrichten des Tages. Mächtige Unternehmen, die große Klimaziele verkünden, ohne konkrete Pläne zur Umsetzung zu haben. Großbritannien bewilligt entgegen der eigenen Klimaversprechen neue Öl- und Gasfelder in der Nordsee. Die Abholzung im Amazonas erreichte im Januar einen neuen Rekord.
Wie ein zu straff gespanntes Trampolinnetz spannt sie sich an Händen, Füßen und im Gesicht. Meine Haut. Eins weiß ich: Das fühlt sich nicht gut an. Warum? Weil ich „Haut im Spiel“ habe – so die wortwörtliche Übersetzung des englischen Ausdrucks, der mir mit einsetzendem Nieselregen, den ich nun auf Stirn und Wangen spüre, in den Sinn kommt: „skin in the game“. Weil mich die Nachrichten nicht „kalt lassen“, weil sie mich „berühren“, weil ich weiß und spüre, dass sie mich „betreffen“.
Zuletzt habe ich hier argumentiert, dass Politik immer Psychologie sei, weil sie sich doch stets mit menschlichen Bedürfnissen beschäftige. Jetzt gehe ich noch einen kleinen, aber entscheidenden Schritt weiter. Allen hartgesottenen Objektivitäts- und Rationalitäts-Überzeugten empfehle ich sicherheitshalber, mindestens drei Mal tief durchzuatmen – oder direkt aufs Rad zu steigen.
Los geht’s: Politik ist stets eine emotionale Angelegenheit. Und damit meine ich nicht flammende Reden in Parlamenten, sondern vor allem die sachlichen, ruhigen Argumentationen. Ich meine die vermeintlich nüchternen Darstellungen für oder gegen bestimmte Maßnahmen, sei es eine Impfpflicht, die Vermeidung von CO2-Emissionen oder der Versand von 5000 Helmen.
Letztendlich ist es ganz einfach: Nur wenn etwas begründbar ist, wenn es also ein „Warum“ gibt, kann jemand „für“ oder „gegen“ etwas argumentieren. Jedes „Warum“ beruht auf Werten, die wiederum auf Emotionen beruhen. Letztere lassen uns spüren, was uns wichtig ist, weil sie uns berühren und betreffen. So landen wir wieder bei der Haut. Anders formuliert: Die Emotionen signalisieren uns, was uns be-rührt und machen uns so entscheidungs- und handlungsfähig, egal ob im Privaten oder im gesellschaftlichen und politischen Kontext.
Der Regen hat sich unangenehm nasskalt seinen Weg durch die Handschuhe gebahnt. Wut! Nicht über die nassen Finger, sondern weil Menschen – in Unternehmen und Parteien organisiert – meine und ihre Zukunft mit ihren Entscheidungen aufs Spiel setzen. „Warum be-greifen sie das nicht?“, schießt es mir durch den Kopf – „Falsche Frage!“ sogleich hinterher. Die bessere Variante: „Wie können wir Entscheider:innen berühren, damit sie Entscheidungen treffen, die sich für mehr Menschen auch mittel- und langfristig gut anfühlen?“ Vielleicht, indem wir sie spüren lassen, dass auch ihre Haut im Spiel ist, dass auch sie ohne Luft nicht atmen, ohne Böden nicht essen und ohne Schutz nicht zur Ruhe kommen können.
Vielleicht müssen sie manchmal auch die Angst – oder gar Panik – spüren, die junge Menschen protestieren, in den Hungerstreik treten oder auf Autobahnauffahrten Platz nehmen lässt.
Emotionen sind nicht gut oder schlecht, sondern geben uns Richtung und Halt zugleich. Sie ermöglichen es uns, werte- und zielorientiert zu entscheiden – ist das nicht die Grundidee von Politik?
Maren Urner ist Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie.