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Kolumne
Morde von Hanau: Jahrhundertealter Rassismus bricht sich seinen Weg
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Ein Jahr nach Hanau müssen wir nach den gesellschaftlichen Bedingungen für die Gewalt fragen. Eine Kolumne.
Hanau hat es in keine Talkshow geschafft. Das ist ernüchternd, aber nicht überraschend. Es steht beispielhaft dafür, wie viele Menschen sich nicht mit dem Thema Rassismus verbunden fühlen oder glauben, dass es keinen Aufmacher wert ist. In mir hallt der Jahrestag der Morde noch nach.
„Hanau ist überall.“ Keine Vergangenheit, sondern Sorge in der Gegenwart. Das wissen und spüren hierzulande viele nicht, weil sie lieber dem Mythos von Einzeltat und -täter folgen. Das ist gefährlich, weil es ein gesamtgesellschaftliches Problem verkennt. Genauso falsch ist die Annahme, dass Rechtsextremist:innen nichts mit unserer Mitte zu tun hätten. Doch ist es genau sie, die die Täter von Hanau und Halle, den Mörder von Walter Lübcke oder den NSU hervorgebracht hat.
Hanau geht uns alle an
Hanau geht uns alle an. Es hat wenig Nutzen, sich kurzzeitig zu erregen. Antirassismus und Antiantisemitismus sind ein solidarischer Widerstand im Bündnis. Es heißt sich auseinanderzusetzen mit den eigenen verinnerlichten Vorstellungen, dem eigenen Denken über die vermeintlich anderen: die Muslim:innen, die Juden und Jüdinnen oder Romn:ja und Sint:izze. Raus aus dem „Integrationstheater“ und eine Antwort auf die Frage finden, warum manche die Tasche fester greifen, wenn sie einem Schwarzen Menschen begegnen, und warum Letztere häufiger als weiße Menschen von der Polizei kontrolliert werden.
Viel wurde schon über die Radikalisierung im Netz, den Einfluss von Sprache, die Verschiebung des Sagbaren und die Rhetorik rechter Parteien wie der AfD geschrieben. Sie stigmatisierte Shishabars zu Orten krimineller Machenschaften; dabei sind sie Treffpunkte für so viele junge Menschen, die in Clubs die Erfahrung machen, wegen ihres Aussehens nicht hereingelassen zu werden. Unser Rassismus ist Jahrhunderte alt. Deshalb müssen wir uns mit der Vielschichtigkeit unserer Migrationsgesellschaft und dem Thema Rassifizierung auseinandersetzen und deutsche Begriffe für unser Erleben finden, die alle verstehen.
Die Liste der Vorwürfe der Angehörigen in Hanau den Behörden gegenüber ist lang
Ein Jahr nach Hanau genügt es nicht mehr, über leicht verdaulichen Alltagsrassismus, Diversity oder interkulturelles Verständnis zu sprechen. Wir müssen nach den gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen für die Gewalt fragen. Kritische Selbstreflexion ist das eine; der nächste Schritt ist, die strukturellen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu erkennen. Beispielsweise die zwischen unserer Rechtsprechung, behördlichem Handeln und gesellschaftlichen Debatten. Wer ist bereit, sich mit den unbequemen Antworten auseinanderzusetzen? Es gibt Gründe, warum die Liste der Vorwürfe der Angehörigen in Hanau den Behörden gegenüber so lang ist. Und es gilt zu klären, inwiefern ein in behördlichen Strukturen verankerter Rassismus auch andernorts diese Geschehen begünstigt oder eine Aufklärung behindert hat. Es wird Zeit, in Schulen, Unternehmen, in Behörden, der Justiz und den Medien für diese Themen zu sensibilisieren, um die Gewalt gar nicht erst entstehen zu lassen.
Auf politischer Ebene brauchen wir dazu eine gesetzlich verankerte, klare Definition von Rassismus und eine daran angelehnte, langfristige Strategie. Der Kracher wäre ein Ministerium, das sich mit dem Thema Einwanderungsgesellschaft, Teilhabe und Antidiskriminierung befasst, weil das auch per Gesetz Dinge verändern könnte. Seit Jahren arbeiten kluge Menschen an einer langen Maßnahmenliste, damit Gleichbehandlung und Schutz nicht nur auf dem Papier stehen. Die Politik müsste sich nur bedienen. Aber wo der Wille fehlt, da ist auch kein Weg. (Hadija Haruna-Oelker)