Große Zahlen und kleine Echsen

Neuentdeckte Reptilienarten lassen ahnen, was schon verloren ist. Nicht Schlangen aber machten eine Insel berühmt, sondern ein Mittelfinger. Die Kolumne.
Die Zahlen steigen unaufhörlich. Und das ist gut so. Inzwischen ist die Zahl der Kriechtierarten bei weltweit über 10 700 angelangt, wie die Deutsche Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde (DGHT) mitteilt. Statistisch gesehen wurde im Jahr 2021 rund alle eineinhalb Tage eine neue Art von Schildkröten, Echsen und Schlangen entdeckt.
Mit gerade einmal zwei neu beschriebenen Arten tragen die Schildkröten nur wenig zu diesem Zuwachs bei, Schlangen und Echsen stellen den weitaus größten Anteil. Nur bei den Krokodilen gibt es offenbar nichts Neues zu entdecken. Man darf davon ausgehen, dass inzwischen alle Arten der Panzerechsen wissenschaftlich beschrieben sind. Sie sind zu auffällig und zu groß, um übersehen zu werden.
Ganz anders verhält es sich bei der im echten Sinne des Wortes kleinsten Sensation unter den Neuentdeckungen, einem Chamäleon aus Madagaskar. Das im Verhältnis zum männlichen Tier noch eher große Weibchen misst ganze 19 Millimeter, das Männchen ist 6 Millimeter kleiner.
Kein Wunder, dass es bisher übersehen wurde. Die Art lebt in einem vom Menschen schon stark geschädigten Regenwald in den Bergen dieser an Biodiversität besonders reichen Insel. Und ist, man mag es erahnen, vom Aussterben bedroht.
Dass ein madegassisch-deutsches Team von Forschenden den Zwerg fand, ist schon ein paar Jahre her. Es dauert aber immer einige Zeit, bis abgeklärt ist, dass die Art nicht schon anderswo beschrieben wurde, also tatsächlich neu für die Wissenschaft ist.
Immerhin wurden die beiden Exemplare dieses (bislang!) kleinsten Reptils der Welt im Gelände entdeckt. Viele Neubeschreibungen von Tier- oder auch Pflanzenarten ergeben sich aber nicht aus aktueller Feldarbeit, sondern durch Auswertungen von alten Aufsammlungen, die teils schon seit der Kolonialzeit in Gläsern oder trocken präpariert in den Regalen der Museen unbeachtet blieben.
Jedenfalls zeigen die Zahlen und der Fund, dass die Forschung fortschreitet, unser Wissen um die biologische Diversität der Erde ständig wächst und noch reichlich Überraschungen zu erwarten sind. Doch gleichzeitig belegt jede Neuentdeckung, dass vieles noch nicht entdeckt wurde, also dass uns wissensmäßig so einiges durch die Lappen gegangen ist und weiter geht.
Denn längst ist es eine Binsenweisheit, dass mit der gewaltigen Schädigung der Lebensräume, Biotope, Ökosysteme ungezählte Tier- und Pflanzenarten aussterben, ohne dass wir jemals Kenntnis von ihrer Existenz bekommen hätten. Wir wissen nicht, was wir verlieren, auch hinsichtlich möglicher Nutzungspotenziale für den Menschen.
Ein hochgereckter Mittelfinger, der einzige, dem je eine Briefmarke gewidmet wurde, lenkte jüngst die Aufmerksamkeit auf die Schlangeninsel im Schwarzen Meer. Wir wissen, dass er von einem ukrainischen Soldaten gezeigt wurde und dass er einem russischen Kriegsschiff galt. Unbekannt bleibt aber, welchen Schlangen dieses Eiland seinen Namen verdankt.
Weltweite Bekanntheit erlangte es jedenfalls nicht als sagenhafte Grabstätte des Achilles oder gar wegen irgendwelcher Reptilien, sondern durch einen mutig in die Höhe gehaltenen ukrainischen Mittelfinger. Und den dazu passenden Funkspruch. Da geht nicht nur bei Briefmarkensammlern der Daumen hoch.
Manfred Niekisch ist Biologe und ehemaliger Direktor des Frankfurter Zoos.