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Gebrüll vom Dach

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Von: Manfred Niekisch

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Schreien aus voller Kehle: Im Frühling stecken die Amselhähne ihre Reviere ab.
Schreien aus voller Kehle: Im Frühling stecken die Amselhähne so ihre Reviere ab. © Rech/Imago

Amseln verteidigen ihr Revier gerade im Frühjahr, Wölfe tun das weniger rabiat. Die Krone der Schöpfung hat noch andere Möglichkeiten, Ressourcen zu schonen. Die Kolumne.

Sie brüllen es von Dächern und Baumwipfeln, die Amseln. Der Frühling ist da, und die schwarzen Vögel mit dem gelben Schnabel stecken ihre Reviere ab. Akustisch. Für unsere Ohren ist es melodischer Gesang, was die männlichen Vögel da von sich geben. Doch die Lautäußerungen sind nicht an uns gerichtet, sondern an Geschlechtsgenossen, denen so lautstark signalisiert wird, dass das Revier bereits besetzt ist. Trickreich wechseln die Hähne dabei immer wieder den Standort, um potenziellen Interessenten an ihrem Territorium zur Abschreckung eine gewisse Omnipräsenz vorzugaukeln.

So versuchen sie, Raum für paarungsinteressierte Weibchen zu schaffen und gleichzeitig andere Brautwerber herauszuhalten. Sie sichern gleichzeitig genügend Platz, um die Nahrungsversorgung ihrer Nestlinge zu gewährleisten. So oder so ähnlich ist die Strategie bei vielen Tieren, die Reviere ausbilden. Nicht immer sind es Individuen, sondern auch Gruppen. Besonders viel von sich reden machen da die Wölfe.

Haben sie erst einmal ein Revier besetzt und die Erfahrung gemacht, dass ein versuchter Angriff auf Schafe oder andere vermeintliche Beutetiere durch menschlicherseits eingerichtete geeignete Herdenschutzmaßnahmen schmerzhaft, gefährlich und nicht empfehlenswert ist, ist die Gefahr meist gebannt. Herumziehende einzelne Wölfe auf der Suche nach einem freien Revier haben kaum eine Chance, in fremden Revieren zu wildern und Unruhe unter den Weidetieren und ihren Besitzerinnen und Besitzern zu verbreiten.

Da ist es schon ein ärgerliches Missverständnis, wenn durch das Märchen vom Rotkäppchen oder die Sensationspresse verängstigte, ja traumatisierte Menschen die Begegnung mit neugierigen Wölfen gleich als Bedrohung empfinden. Die Tiere wollen eben wissen, ob sich das Gebiet als Revier eignet beziehungsweise was in ihrem Territorium los ist. Das ist doch ein legitimes Anliegen.

Amselhähne sind da wesentlich rauffreudiger als Wölfe, wenngleich uns die Ausprägungen und Folgen von deren aggressivem Verhalten vielleicht interessieren, eventuell sogar amüsieren, keinesfalls aber bedrohlich erscheinen. Der lautstarke Kampf der kurz über dem Boden flatternden, sich prügelnden schwarzen Streithähne fällt selbst mitten in der Stadt auf.

Mitunter richtet sich deren Wut auch gegen die ersten bunten Frühjahrsblüten, die in Parks und Vorgärten unser Auge erfreuen. Das Gelb der Krokusse ähnelt in Farbe und Form doch allzu sehr dem gelben Schnabel eines Konkurrenten, eines (vermeintlichen) Eindringlings ins Amselrevier. Sehen wir solche von einem wütenden Amselmännchen gnadenlos zerfetzten Blüten, lehrt uns die Ornithologie, dass hier offenkundig die Grenze des Reviers einer Amsel verläuft.

Als vorsichtige, scheue Jäger können Wölfe sich solch krasse Fehleinschätzungen nicht leisten. Jedenfalls erscheinen die Einhaltung und die Verteidigung von Territorien im Tierreich als eine durchaus sinnvolle Strategie zur nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen. Die sogenannte Krone der Schöpfung hat da noch andere Möglichkeiten.

Manfred Niekisch ist Biologe und ehemaliger Zoodirektor.

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