KI: Fotografie und Fälschung

Was sich Kunstschaffende herausgenommen haben, droht durch KI zum Massenmedium zu werden. Manipulation als soziales Gift und Instrument der Herrschaft. Die Kolumne.
Man kann es als eine gewiefte Antwort auf die derzeit wie elektrisiert geführte Debatte über künstliche Intelligenz betrachten. Gegen die vielfältig beschworene Ohnmacht gegenüber den diabolischen Hervorbringungen technologischer Entwicklungen, die vor allem aus der Sorge hervorgeht, menschliche und künstliche Kreativität nicht voneinander unterscheiden zu können, hat der Berliner Fotograf Boris Eldagsen eine Art intelligent eingefädelten Fälschungscoup gelandet.
Er hat unlängst einen begehrten Preis für Fotokunst, den Sony World Photography Award, für sein Werk „Pseudomnesia: The Electrician“ abgelehnt, weil die Jury eine teilweise mit KI erzeugte Arbeit prämiert habe. Eldagsen hatte die Jury also auf die Probe gestellt, und ganz in seinem Sinne war die darauf hereingefallen. Ein Hoax also, eine bewusste Irreführung, um eine Debatte über die Rolle der KI in der Fotografie anzustoßen.
Natürlich läuft die schon, und nicht erst, seit wir bildliche Darstellungen von Papst Franziskus in einer coolen Daunenjacke und einen rauflustigen Donald Trump gesehen haben, wie er sich gegen die polizeiliche Verhaftung zur Wehr setzt. Die Fragen nach Differenz, Ähnlichkeit und technischer Reproduzierbarkeit bestimmen seit jeher die moderne Ikonographie.
Die TV-Zeitschrift „Hörzu“ hat sich diese bereits in den 1960er Jahren für das unterhaltsame Bilderrätsel „Original und Fälschung“ zunutze gemacht. Als Kind habe ich mich immer gefragt, wie sich diese Form der Retusche wohl bewerkstelligen lasse. Wenig später hat mein Bruder mir gezeigt, was man in der Dunkelkammer alles mit Fotografien anstellen kann.
Zweifellos hat Boris Eldagsen, der in der Fotokunst als Solitär gilt, weil er sich keiner Schule zurechnen lasse, wie es in einem Biopic auf der Seite einer Kunstgalerie heißt, einen Nerv getroffen. Seine Inszenierungen beziehen ihre bildliche Kraft aus der zwischen Authentizität und Suggestion changierenden Rätselhaftigkeit. Was sich Künstler schon immer herausgenommen haben, droht nun zu einem Massenmedium zu werden. Manipulation als soziales Gift und Herrschaftsinstrument.
Und schon wieder wird der Tod der Autorenschaft ausgerufen. Es ist längst angebracht, sich die viel geschmähte Simulationstheorie des französischen Philosophen Jean Baudrillard wieder vorzunehmen. Doch so reflektiert die kürzlich herausgegebenen Handreichungen des Ethikrats zur KI auch sein mögen, werden sie der Anwendungsdynamik der KI ebenso wenig entgegenzusetzen haben wie der Hoax von Boris Eldagsen.
Keine Rettung nirgends? Vielleicht liegt sie in einer Skepsis gegenüber jeglicher Aura, wie sie einst Walter Benjamin in seinem berühmten Kunstwerk-Aufsatz beschrieben hat. Die Fotografie des Kusses, die der Fotograf Robert Doisneau 1950 vor dem Hotel de Ville in Paris aufgenommen hatte, büßte einiges an Strahlkraft ein, als vor ein paar Jahren bekanntwurde, dass dieser das Ergebnis aufwendiger Gestaltung war und keineswegs Ausdruck einer spontanen Liebesbekundung.
Den vorübergehenden Liebesentzug musste der Hotel-Kuss nicht lange erleiden. Letztlich stellen wir uns menschliche Leidenschaft noch immer am liebsten vor wie auf dem Foto von Doisneau und wollen glauben, dass wir den Unterschied zu etwas künstlich Fabriziertem ganz genau erkennen.
Harry Nutt ist Autor.