Fischer und Nixe

Die Debatte über eine Skulptur in Berlin zeigt: Es gibt viele Gründe, sich mit Kunst im öffentlichen Raum zu beschäftigen und sie neu zu lesen. Die Kolumne.
Der Fischer ist ein Baum von einem Mann mit nacktem Oberkörper. Ein mit dem Thema Bodybuilding vertrautes Publikum dürfte bemerken, dass die Muskelpakete sorgsam definiert sind. Zu der Zeit, als die Bronzeskulptur des Bildhauers Ernst Gustav Herter entstand, entsprach der Körper einem an klassischen Vorstellungen geprägtem Männerbild.
Seit 1896 befindet sich die Figurengruppe am Fuße des Wasserfalls im Kreuzberger Viktoriapark. Der Fischer ist nicht allein, schwungvoll zieht er eine Nixe aus dem Wasser. Die Dynamik dieser zu Bronze gegossenen, gleichsam stillgestellten, Bewegung ist beachtlich.
Es ist keine liebliche Szene, der „seltene Fang“, so der Name der Figurengruppe, scheint Fischer und Nixe gleichermaßen zu ängstigen. Wegen der unverhofften Begegnung zwischen Mensch und Fabelwesen? Oder geht es um den Ausdruck sexueller Gewalt? Wenn man diese in der Szene finden will, wird man den Gedanken an Vergewaltigung nicht mehr los.
Schon möglich, dass der zu seiner Zeit viel beschäftigte Bildhauer Ernst Herter den Weg über die mythologische Szene suchte, um eine derart agonale Körperlichkeit in der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Wer Herter war und was ihn bewog, interessiert Sarah Jermutus, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bezirksparlament von Kreuzberg-Friedrichshain, gerade nicht. Sie möchte an der Skulptur eine Infotafel anbringen, die sich gegen die „Verharmlosung, Ästhetisierung und Normalisierung“ von sexualisierter Gewalt richtet.
Die Kreuzberger Grünen greifen auf diese Weise schon länger zirkulierende Protestnoten auf. Seit 2005 befindet sich bereits das Mahnmal „Wir haben Gesichter“ im Viktoriapark. Es soll aller Frauen gedenken, die Opfer sexueller Gewalt wurden. Am Ort des Mahnmals wurde 2002 eine Frau von zwei Männern überfallen und vergewaltigt.
Im Berliner Stadtbild befinden sich zahlreiche Arbeiten von Ernst Herter – Reliefs, Standbilder, Porträtreliefmedaillons auf Gräbern. Im Vorhof der Humboldt-Universität gibt es eine Statue von Hermann von Helmholtz, des Mediziners, Physiologen und Physikers, nach dem eine der wichtigsten deutschen Forschungseinrichtungen benannt ist. Ein Standbild des Industriellen Alfred Krupp befindet sich in der Technischen Universität. Die Bildhauerei war die vielleicht wichtigste Gattung der Repräsentationskunst.
Weit größeres Aufsehen als mit seinem Fischer und der Nixe erregte der 1846 in Berlin geborene und 1917 dort gestorbene Ernst Herter auf dem Höhepunkt seiner Schaffensphase 1897 mit seinem Heinrich-Heine-Denkmal aus weißem Laaser Marmor, das ursprünglich zum 100. Geburtstag des Dichters in dessen Heimatstadt Düsseldorf aufgestellt werden sollte.
Nachdem dies durch antisemitische und nationalistische Agitation gegen den Juden Heine verhindert worden war, entstand es zwei Jahre später schließlich im New Yorker Bezirk Bronx. Wenn man so will, verhinderte der transatlantische Kulturaustausch diese frühe Version von Cancel Culture.
Mythologisch rätselhaft geht es übrigens auch bei der Heine-Verehrung durch Herter zu. Eine Sphinx (halb Frau, halb Löwin) umarmt auf einem Relief einen nackten jungen Mann im Todeskuss. Kunst im öffentlichen Raum – es gibt viele Gründe, sie wieder ganz neu zu lesen.
Harry Nutt ist Autor.